Die Farben der Zeit
zurück, an der Seite der Kirche entlang, aber Verity war nirgends zu sehen. Sie mußte aus einer der anderen Türen gekommen sein. Nicht aus der Sakristei. Dort ging die Brandwache ein und aus. Das Westportal.
Ich rannte um die Kirche herum. Vor dem Westportal stand ebenfalls eine Gruppe Menschen, in der Vorhalle zusammengedrängt, eine Frau mit drei kleinen Mädchen, ein alter, in eine Decke gehüllter Mann, ein Mädchen in einer Dienstmädchenuniform. Eine grauhaarige Frau mit einer scharfen Nase und einer WAS-Armbinde stand vorm Portal, die Arme verschränkt.
»Haben Sie irgend jemanden in den letzten Minuten aus der Kirche kommen sehen?« fragte ich sie.
»In die Kirche darf niemand außer der Brandwache hinein«, erwiderte die Frau anschuldigend, und ihre Stimme erinnerte mich ebenfalls an jemanden, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, an wen.
»Sie hat rote Haare«, sagte ich. »Sie trägt ein langes weißes… sie trägt ein Nachthemd.«
»Ein Nachthemd?« fragte die Frau mißfällig.
Ein untersetzter Luftschutzhelfer kam herbei. »Ich habe den Befehl, dieses Gebiet hier zu räumen«, sagte er. »Sämtliche Zufahrten zur Kathedrale müssen für die Feuerwehr frei sein. Beeilen Sie sich bitte.«
Die Frau mit den drei kleinen Mädchen hob das kleinste auf und verließ die Vorhalle. Der alte Mann schlurfte hinter ihr her.
»Kommen Sie«, sagte der Luftschutzhelfer zu dem Dienstmädchen, das vor Furcht paralysiert schien. »Sie auch, Miss Sharpe.« Er winkte der grauhaarigen Frau.
»Ich habe nicht vor, irgendwo anders hinzugehen«, sagte sie, ihre Arme noch energischer verschränkend. »Ich bin die Vizevorsitzende der Frauengemeinschaft der Kathedrale und Vorsitzende des Blumenausschusses.«
»Es ist mir egal, wer Sie sind«, sagte der Mann. »Ich habe den Befehl, diese Türen für die Feuerwehr freizumachen. Ich habe bereits das Südportal freibekommen, und nun sind Sie dran.«
»Haben Sie eine junge Frau mit rotem Haar gesehen?« unterbrach ich ihn.
»Mein Auftrag ist es, dieses Portal gegen Plünderer zu verteidigen«, sagte die Frau und richtete sich zu voller Lebensgröße auf. »Ich stehe hier, seitdem der Angriff begann, und ich beabsichtige, die ganze Nacht hier zu stehen, falls es nötig ist, um die Kathedrale zu schützen.«
»Und ich beabsichtige, die Türen freizumachen«, entgegnete der Luftschutzhelfer und richtete sich auf.
Ich hatte keine Zeit für so was, also trat ich zwischen die beiden. »Ich suche ein Mädchen«, sagte ich und richtete mich auf. »Rotes Haar. Weißes Nachthemd.«
»Fragen Sie auf der Polizeiwache«, sagte der Mann. Er deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war. »Unten auf der St. Mary’s Street.«
Ich machte mich im Laufschritt auf, überlegend, wer von den beiden wohl gewinnen würde. Ich persönlich setzte auf die Vorsitzende des Blumenausschusses. An wen erinnerte sie mich? Mary Botoner? Lady Schrapnell? Eine der pelztragenden Damen bei Blackwell’s?
Der Luftschutzhelfer hatte beim Räumen des Südportals keine gute Arbeit geleistet. Die selbe Gruppe Menschen wie vorhin stand davor, und die beiden Halbwüchsigen hielten immer noch den Laternenpfahl besetzt. Ich eilte weiter, die Südseite der Kathedrale entlang zu Bayley Lane und direkt in die Prozession hinein.
Ich hatte darüber gelesen, was der Polizeisergeant als »feierliche kleine Prozession« beschrieben hatte, als die Brandwache die Schätze, derer sie noch habhaft werden konnte, zusammengerafft und zur Polizeiwache hinübergeschafft hatte. Vor meinem inneren Auge hatte ich sie mir vorgestellt – eine ordentliche Parade mit Probst Howard an der Spitze, die Fahne des Warwickshire-Regiments schwenkend, dann die übrigen, die die Kerzenständer, den Abendmahlskelch und den Behälter mit den Hostien trugen, alle in gemessenem Schritt, das hölzerne Kruzifix am Ende – und deshalb erkannte ich zuerst gar nicht, was ich vor mir hatte.
Denn es war keine Prozession, es war ein Haufen, eine Rotte, Napoleons Alte Garde, die verzweifelt versuchte, was sie konnte, aus Waterloo zu retten. Sie stolperten die Straße im Laufschritt hinunter, der Kanoniker mit einem Kerzenleuchter unter jedem Arm, beladen mit Talaren, ein halbwüchsiger Junge, der einen Abendmahlskelch und eine Handpumpe umkrampfte, als ginge es ums liebe Leben, der Probst, der die Fahne wie eine Lanze vor sich her trug und beinahe über den wehenden Stoff stolperte.
Ich blieb stehen, schaute ihnen zu, als wären sie
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