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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Kathedrale«, sagte der kleine Junge und verrenkte sich den Hals, um zur Decke zu sehen. »Hast du Königinnen?«
    »Nein«, sagte seine Mutter, schaute auf ihr Blatt und dann wieder zur Decke hoch. »Los, mach voran. So weißt du jedenfalls, daß mit unserer Kathedrale alles in Ordnung ist, wenn du die Glocken hören kannst.«
    Ich mußte raus hier, und so stürzte ich aus der Tür und die Stufen hoch auf die Straße. Die Glocken schlugen hell die Stunden. Das würden sie die ganze Nacht über tun, die Stunden angeben und den Menschen von Coventry Sicherheit geben, während über ihnen die Flugzeuge dröhnten und die Kathedrale selbst auf die Grundmauern niederbrannte.
    Der Haufen Menschen vorm Südportal hatte sich über die Straße begeben, um von dort aus die Flammen besser sehen zu können, die aus dem Dach schlugen. Die beiden Halbwüchsigen hatten immer noch Posten an der Laterne bezogen. Ich rannte zu ihnen.
    »Hat keinen Zweck«, sagte der eine gerade. »Das kriegen sie jetzt niemals mehr raus.«
    »Ich suche eine junge Frau, ein Mädchen…« hub ich an.
    »Tun wir das nicht alle?« sagte der kleinere, worauf beide lachten.
    »Sie hat rotes Haar.« Ich gab nicht auf. »Sie trägt ein weißes Nachthemd.«
    Was – natürlich – einen kolossalen Lacher erzeugte.
    »Ich denke, daß sie in einem der Bunker hier irgendwo ist, aber ich weiß nicht, wo die sind.«
    »Unten in der Little Park Street ist einer«, sagte der Große.
    »Dort war ich schon«, sagte ich. »Dort ist sie nicht.«
    Die beiden überlegten. »Oben in der Gosford Street ist noch einer«, sagte der Kleine. »Aber dorthin schaffen Sie’s nicht mehr. Eine Luftmine. Sie blockiert die ganze Straße.«
    »Vielleicht ist sie in der Krypta«, meinte der Größere und setzte, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, hinzu: »Die Krypta der Kathedrale. Dort unten ist auch ein Schutzraum.«
    Die Krypta – natürlich! Dutzende von Menschen hatten in der Bombennacht dort Schutz gesucht. Sie waren bis elf Uhr dort geblieben, bis die Kathedrale über ihren Köpfen lichterloh brannte, und waren dann über die Außentreppe hinausgebracht worden.
    Ich raste an den Gaffern vorbei zum Südportal und die Stufen hoch. »Sie können dort nicht rein!« rief die Frau mit dem Taschentuch.
    »Rettungstrupp!« rief ich und rannte hinein.
    Der westliche Teil der Kirche war immer noch dunkel, dafür war es im hohen Chor und dem Allerheiligsten mehr als hell. Die Sakristeien standen in Flammen, ebenso die Girdlersche Kapelle, und darüber quoll bronzefarbener Rauch aus den Bögen der Lichtgaden. In der Capperschen Kapelle leckten Flammen an dem Ölgemälde von Christus mit dem verlorenen Lamm auf dem Arm. Brennende Blätter aus der Gottesdienstordnung trieben durch das Kirchenschiff, wehten ascherieselnd herum.
    Ich versuchte, mich an das Layout von Lady Schrapnells Entwürfen zu erinnern. Die Krypta lag unter der St. Lawrence-Kapelle im Nordgang, genau westlich der Draperschen Kapelle.
    Ich lief den Hauptgang hoch, der feurigen Gottesdienstordnung ausweichend, und versuchte mich zu entsinnen, wo die Stufen waren. Links neben dem Lesepult.
    Weit vorn im Chor fing mein Blick etwas Weißes ein.
    »Verity!« schrie ich und rannte den Gang hoch.
    Die Gestalt flitzte durch den Chor in Richtung Allerheiligstes. Zwischen den Chorbänken blitzte es weiß auf.
    Brandbomben prasselten auf das Dach, und ich schaute hoch, dann wieder zum Chor zurück. Die Gestalt, falls es eine gewesen war, war verschwunden. Über dem Eingang zur Draperschen Kapelle wurde ein Blatt der Gottesdienstordnung vom Aufwind gepackt, tanzte auf und nieder.
    »Ned!«
    Ich wirbelte herum. Veritys schwaches Rufen schien von weit hinter mir zu kommen, oder trog mich das Geräusch der überhitzten Luft in der Kathedrale? Ich rannte weiter zum Chor, der aber, genau wie das Allerheiligste, verlassen war. Die Gottesdienstordnung trudelte im Aufwind von der Draperschen Kapelle herüber, loderte auf und sank brennend auf den Altar.
    »Ned!« schrie Verity und dieses Mal konnte ich sie nicht verfehlen. Sie war draußen, vor der Kirche. Vor dem Südportal.
    Ich rannte hinaus, die Stufen hinunter, ihren Namen schreiend, an den Dachbeobachtern und den Laternenstehern vorbei. »Verity!«
    Fast gleichzeitig sah ich sie. Sie war halbwegs unten auf der Little Park Street, in einem erregten Gespräch mit dem untersetzten Luftschutzhelfer. Der hintere Teil ihres zerrissenen langen weißen Kleides schleifte auf dem

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