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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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trotz allem eine Parade, und vergewisserte mich genau, ob eine von Veritys Möglichkeiten zutraf. Nein – keiner von ihnen trug des Bischofs Vogeltränke.
    Sie stürmten in die Polizeiwache, wo sie ihre Schätze offenbar ohne jede Zeremonie hinschmissen, denn in Nullkommanichts waren sie wieder draußen und rannten zur Sakristeitür zurück.
    Ein Mann mit beginnender Glatze, der einen blauen Overall trug, kam ihnen auf halbem Weg die Treppe hinunter entgegen. »Laßt es sein. Zuviel Rauch schon überall.«
    »Ich muß die Evangelien und die Episteln holen!« Probst Howard schob ihn beiseite und verschwand im Innern der Kirche.
    »Wo, zum Teufel, bleibt die Feuerwehr?« fragte der Junge.
    »Die Feuerwehr?« Der Kanoniker blickte zum Himmel hoch. »Wo, zum Teufel, bleibt die Royal Air Force?«
    Der Junge rannte die St. Mary’s Street hinunter zur Polizeiwache, um ihnen zu sagen, daß sie die Feuerwache benachrichtigen sollten, und ich folgte ihm.
    Die geretteten Schätze waren rührend in einer Linie auf dem Schreibtisch des Sergeanten aufgebaut, die Regimentsfahnen dahinter an die Wand gestellt. Während der Junge dem Sergeant sagte, daß er die Feuerwehr noch mal anrufen solle, denn das ganze Dach des hohen Chores stehe in Flammen, schaute ich mir die Schätze an. Die Kerzenleuchter, das hölzerne Kruzifix. Ebenso ein kleiner Stapel abgeschabter Gebetsbücher, die nicht auf der Liste aufgetaucht waren, ein Bündel Umschläge für Opfergaben und das Gewand eines Chorknaben. Ich fragte mich, wie viele andere Dinge Probst Howard in seiner Liste noch vergessen hatte. Doch des Bischofs Vogeltränke befand sich nicht darunter.
    Der Junge schoß hinaus, und der Sergeant nahm den Telefonhörer. »Haben Sie eine junge rothaarige Frau gesehen?« fragte ich, bevor er die Nummer der Feuerwehr wählen konnte.
    Er schüttelte den Kopf, die Hand über die Sprechmuschel. »Wahrscheinlich ist sie in einem der Bunker.«
    Natürlich, ein Bunker. Der logischste Ort, an dem man sich während eines Luftangriffs aufhielt. Sie würde soviel Verstand haben, nicht draußen herumzulaufen. »Wo ist der nächste Bunker?«
    »Unten in der Little Park Street«, sagte er und drückte auf die Telefongabel. »Gehen Sie zur Bayley Street und dann links.«
    Ich nickte dankend und machte mich auf den Weg. Die Brände kamen näher. Der ganze Himmel glühte rauchig orange, und gelbe Flammen schossen vor der Trinity-Kirche hoch. Suchscheinwerfer fuhren im Zickzack über den Himmel, der von Sekunde zu Sekunde heller wurde. Es wurde auch kälter, was irgendwie unmöglich erschien. Ich hauchte in meine eisigen Hände, während ich rannte.
    Ich fand den Bunker nicht. Ein Haus mitten in dem Wohnblock war direkt getroffen worden, ein Berg rauchender Trümmer und daneben brannte ein Gemüseladen. Der Rest der Straße lag finster und verlassen.
    »Verity!« rief ich, voll Angst, aus den Trümmern eine Antwort zu hören, und lief wieder die Straße hoch, krampfhaft das Bunkerschild auf den Gebäuden suchend. Dann entdeckte ich es, mitten auf dem Straßenpflaster. Ich schaute mich hilfesuchend um, während ich versuchte, die Richtung zu bestimmen, aus der die Explosion es hierher geschleudert haben mochte. »Hallo!« rief ich Treppenhaus nach Treppenhaus hinunter. »Ist hier jemand?«
    Schließlich fand ich den Bunker ganz am Ende der Straße, praktisch direkt neben der Kathedrale, in einem Untergeschoß, das keinen Schutz vor irgend etwas bot, nicht einmal vor der Kälte.
    Es war ein kleiner, verwahrloster Raum ohne jedes Mobiliar. Ungefähr zwei Dutzend Menschen, einige von ihnen in Morgenmänteln, saßen auf dem schmutzigen Fußboden, gegen die Wand gelehnt, an der Sandsäcke aufgetürmt waren. Eine Sturmlampe hing an einem Deckenbalken, die jedesmal, wenn eine Bombe einschlug, wie wild hin und her schwang, und darunter hockte ein kleiner Junge im Schlafanzug und mit Ohrenschützern, der mit seiner Mutter Karten spielte.
    Meine Augen suchten im Dämmerlicht nach Verity, aber sie war nicht hier. Wo konnte sie bloß sein?
    »Hat irgend jemand ein Mädchen in einem weißen Nachthemd gesehen?« fragte ich. »Sie hat rotes Haar.«
    Sie hockten da, als wären sie taub und schauten betäubt geradeaus.
    »Hast du Sechsen?« fragte der kleine Junge.
    »Ja.« Seine Mutter gab ihm eine Karte.
    Die Glocken der Kathedrale schlugen, ihr Klang erhob sich über das stete Geräusch des Flakfeuers und das Krachen der Sprengbomben. Neun Uhr.
    Alle schauten hoch. »Die Glocken der

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