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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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würde sich wieder öffnen, doch dann begann es ringsum zu brennen, und ich hatte Angst, daß die Brandwache mich erwischen würde, also ging ich ins Freie und suchte nach dir.«
    »Woher wußtest du, daß ich hier bin?«
    »Ich wußte, daß du kommen würdest, sobald du herausgefunden hast, wo ich stecke«, sagte sie ganz sachlich.
    »Aber…« Ich entschied, ihr nicht zu sagen, daß wir vorher zwei Wochen lang versucht hatten, hierher zu gelangen und nicht einmal annähernd unser Ziel erreicht hatten.
    »… und als ich in die Kirche zurückkam, stand das Allerheiligste in Flammen. Und das Netz öffnet sich nicht auf einem Feuer.«
    »Stimmt«, sagte ich. »Aber das braucht es auch nicht. Ich landete im Turm, der nur ein bißchen angesengt ist. Wir müssen aber durch das Kirchenschiff, wenn wir zum Turm wollen, also beeilen wir uns besser.«
    »Eine Sekunde noch«, sagte sie. Sie zog den Regenmantel an, nahm den Gürtel ab und verwendete ihn dazu, ihren zerrissenen schleifenden Rock in Kniehöhe zu raffen. »Geh ich so für 1940 durch?« fragte sie und knöpfte den Mantel zu.
    »Du siehst wunderbar aus.«
    Wir gingen die Stufen hoch, zurück zur Kathedrale. Der Ostteil des Daches brannte. Und die Feuerwehr war endlich eingetroffen. Einer ihrer Löschwagen parkte an der Ecke, und wir mußten über ein Gewirr von Schläuchen und orangefarbenen Pfützen steigen, um zum Südportal zu gelangen.
    »Wo sind die Feuerwehrleute?« fragte Verity, als wir das Menschenknäuel am Südportal erreichten.
    »Es gibt kein Wasser«, erklärte ein etwa zehnjähriger Junge, der einen dünnen Pullover trug. »Die Jerries haben die Hauptwasserleitung getroffen.«
    »Sie sind rüber zur Priory Row, um einen anderen Hydranten zu finden.«
    »Kein Wasser«, murmelte Verity.
    Wir schauten die Kathedrale hoch. Ein großer Teil des Daches brannte jetzt lichterloh. Das Feuer schoß funkensprühend am Dachende und nahe der Apsis hoch, und aus den durch den Luftdruck zerstörten Fenstern schlugen ebenfalls Flammen.
    »Unsere schöne, schöne Kathedrale«, sagte ein Mann hinter uns.
    Der Junge zupfte mich am Arm. »Sie schafft’s nicht, stimmt’s?«
    Nein, sie schaffte es nicht. Um halb elf, wenn sie endlich einen funktionierenden Hydranten finden würden, würde das ganze Dach lichterloh brennen. Die Feuerwehrleute würden versuchen, einen Wasserstrahl auf das Allerheiligste und die Marienkapelle zu richten, aber das Wasser würde kurz darauf versiegen, und danach würde es, während das Dach brannte, nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Stahlträger, die J. O. Scott hatte einbauen lassen, um den Druck auf die Bögen zu vermindern, sich zu biegen und in der Hitze zu schmelzen anfingen, wodurch die Bögen aus dem fünfzehnten Jahrhundert und das Dach herabstürzen und den Altar, die geschnitzten Misererien, Händels Orgel und das Holzkreuz mit dem knienden Kind am Fuß unter sich begraben würden.
    Unsere schöne, schöne Kathedrale. Ich hatte sie immer mit des Bischofs Vogeltränke auf eine Stufe gestellt – eine ärgerliche Antiquität –, und sicher gab es prächtigere Kathedralen. Aber als ich jetzt hier stand und zuschauen mußte, wie sie brannte, da verstand ich, was es Probst Howard bedeutet hatte, sie neu zu bauen, egal, wie modernistisch häßlich. Was es Lizzie Bittner bedeutet hatte, sie nicht einfach für ein Butterbrot verscherbeln zu lassen. Und ich begriff, warum Lady Schrapnell bereit war, sich mit der Kirche von England, der Historischen Fakultät von Oxford, dem Magistrat von Coventry und dem Rest der Welt anzulegen, nur um sie wiederaufzubauen.
    Ich schaute auf Verity hinab. Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie weinte lautlos. Ich legte den Arm um sie. »Können wir denn gar nichts tun?« fragte sie verzweifelt.
    »Wir werden sie wiederaufbauen. Sie wird wie neu sein.«
    Aber bis dahin mußten wir in die Kirche und in den Turm zurück. Doch wie? Die Menge würde uns nie und nimmer in die brennende Kirche laufen lassen, egal, was ich als Grund angeben mochte, und das Westportal wurde von einem Drachen bewacht. Und je länger wir warteten, desto gefährlicher würde es werden, durchs Kirchenschiff zur Turmtür zu gelangen.
    Durch das Flakfeuer war ein neues Geräusch zu hören. »Noch ein Feuerwehrwagen!« rief jemand, und ungeachtet der Tatsache, daß es kein Wasser gab, rannte jeder, sogar die Laternensteher, zum Westende der Kirche.
    »Das ist unsere Chance«, sagte ich. »Wir können nicht länger warten.

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