Die Farben der Zeit
näherer Überlegung ergab der Gedanke keinen Sinn. In jener ersten Nacht im Hause der Merings, als ich Cyril heimlich in den Stall zurückbrachte, war ich beinahe auf Baine geprallt, der die polierten Schuhe vor die Türen gestellt hatte, und damals war es draußen noch dunkel gewesen. Und er hatte sie nicht eingesammelt, bevor nicht jedermann zu Bett gegangen war. Aber jetzt war es Morgen. Helles Sonnenlicht fiel durchs Fenster auf die Töpfe und Pfannen.
Nirgends sah ich eine Zeitung oder etwas, das mir Auskunft über das Datum hätte geben können. Einer der Töpfe hatte einen spiegelblanken Kupferboden, und ich betrachtete mich darin. Meine Wange zierte ein großer Fleck Ruß, ebenso meinen Schnurrbart. Ich zog mein Taschentuch heraus, spuckte drauf und rieb damit mein Gesicht ab, glättete mein Haar und ging auf den Korridor zurück. Wenn das die Spülküche ist, überlegte ich, muß die nächste Tür zur Küche führen und die Tür danach ins Freie.
Falsch. Es war die Küche, und Jane und die Köchin, die miteinander flüsternd in der Ecke standen, fuhren schuldbewußt auseinander. Die Köchin ging zu einem schwarzen Ungetüm von Ofen, wo sie heftig zu rühren begann, und Jane spießte eine Scheibe Brot auf die Toastgabel und hielt sie übers Feuer.
»Wo ist Baine?« fragte ich.
Jane machte einen Satz. Das Brot fiel von der Gabel und ins Feuer, wo es knisternd aufloderte.
»Was?« Sie hielt die Toastgabel wie ein Rapier hoch.
»Baine«, wiederholte ich. »Ich muß ihn sprechen. Ist er im Frühstückszimmer?«
»Nein«, entgegnete sie ängstlich. »Ich schwör’s bei der Heiligen Jungfrau, Sorrr, ich weiß nicht, wo er steckt. Er hat uns nichts gesagt. Die Herrin wird uns doch nicht entlassen, oder was meinen Sie?«
»Entlassen?« fragte ich verdutzt. »Warum? Haben Sie was angestellt?«
»Nein. Aber sie wird sagen, daß wir es gewußt haben müssen, bei dem ganzen Geschwätz im Dienstbotenraum und so.« Sie schwenkte die Gabel, wie um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Meiner Schwester Margaret ist es so gegangen, nachdem der junge Mr. Val mit Rose, dem Spülmädchen auf und davon ist. Mrs. Abbott schmiß alle raus.«
Ich nahm ihr die Toastgabel ab. »Worüber Bescheid gewußt haben?«
»Hätt’ ich im Traum nicht gedacht«, sagte die Köchin vom Ofen her. »Immer dieses feine Gehabe und die Dienstboten scheuchen. Da sieht man’s wieder.«
Das Gespräch führte irgendwie zu nichts, und mir wurde die Zeit knapp. Ich entschied mich zum Frontalangriff. »Wie spät ist es?« fragte ich.
Jane schaute wieder völlig verschreckt.
»Neun Uhr«, sagte die Köchin, indem sie eine Uhr zu Rate zog, die an ihrer Bluse befestigt war.
»Neun Uhr, und ich muß reingehen und es ihnen sagen!« Jane brach in Tränen aus. »Er sagte, ich solle stille damit sein, bis die Morgenpost käme, damit sie genügend Zeit hätten, und die Post kommt immer um neun.« Sie wischte sich die Augen mit dem Schürzenbändel und richtete sich auf, wie um sich zu wappnen. »Ich geh’ am besten hoch und seh’ nach.«
Ich wollte beinahe fragen: »Still womit sein?«, fürchtete aber, damit nur eine weitere Runde Tränen und unzusammenhängendes Gestammel zu erzeugen. Ganz davon abgesehen, was die Frage: »Welcher Tag ist heute?« nach sich ziehen mochte. »Sagen Sie Baine, er soll mir die Times von heute bringen. Ich bin der Bibliothek«, sagte ich und ging hinaus.
Wenigstens war es Sommer und, bei näherer Betrachtung, Juni. Die Rosen standen noch in voller Blüte, und die Peonien, vom Schicksal bestimmt, unzähligen Federhalterwischern als Vorlage zu dienen, kamen gerade erst heraus, genau wie Colonel Mering, der einen Sack zum Fischteich schleppte. So vergeßlich und mit seinem Goldfisch beschäftigt er wahrscheinlich auch war, ein Zusammentreffen mit ihm wünschte ich mir doch nicht, solange ich nicht wußte, wieviel Zeit verstrichen war. So schlich ich ums Haus zum Stall, um ihn durch das Seitentürchen zu durchqueren und so zu Veranda und dem Wohnzimmer zu gelangen. Ich schlüpfte hinein und fiel beinahe über Cyril. Er lag auf dem Berg Sackleinen, das Kinn auf den Pfoten.
»Du weißt nicht zufällig, wie spät es ist?« fragte ich. »Oder das Datum?«
Seine Reaktion war ein weiteres Anzeichen dafür, daß etwas nicht stimmte. Er stand nicht auf. Er hob nur den Kopf, blickte mich mit einer Miene wie der des Gefangenen von Zelda [78] an, und senkte ihn wieder.
»Cyril, was hast du? Stimmt was nicht?« Ich griff
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