Die Farben der Zeit
Bereit?«
Sie nickte.
»Moment noch«, sagte ich, bückte mich und riß zwei lange Streifen aus ihrem sowieso schon zerrissenen Rocksaum. Ich kniete mich hin und tauchte sie in die Wasserpfützen bei einem der Schläuche. Das Wasser war eisig kalt. Ich wrang den Stoff aus. »Binde das über Mund und Nase«, sagte ich und gab ihr einen. »Wenn wir hineingehen, möchte ich, daß du schnurstracks in den hinteren Teil des Kirchenschiffs läufst und dann die Wand entlang. Und falls wir uns verlieren – die Turmtür ist innerhalb des Westportals, zu deiner Linken.«
»Verlieren?« Sie band sich den Stoff um.
»Bind dieses Stück um die rechte Hand«, riet ich ihr. »Die Türknaufe sind möglicherweise heiß. Der Absetzort liegt achtundfünfzig Stufen aufwärts, den Boden des Turms nicht mitgezählt.«
Ich wickelte die letzte Binde um meine Hand. »Was immer auch passiert, lauf weiter. Bereit?«
Sie nickte, die grünbraunen Augen über der Maske geweitet.
»Komm hinter mich«, sagte ich und öffnete vorsichtig den rechten Portalflügel einen Spalt breit. Keine Flammen röhrten heraus, nur ein Schwall bronzefarbenen Qualms drang nach außen. Ich wich davor zurück und schaute dann ins Innere der Kirche.
Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Das östliche Ende der Kirche war voll Rauch und Flammen, aber wo wir standen, konnte man noch etwas durch den Rauch erkennen, und es sah aus, als wäre dieser Teil des Daches noch intakt. Die Fenster waren, außer einem in der Smithschen Kapelle, herausgedrückt worden, und der Boden war mit roten und blauen Scherben übersät.
»Gibt acht, da liegt Glas.« Ich schob Verity vor mir her. »Tief Luft holen und dann los! Ich bin direkt hinter dir.« Ich öffnete die Tür ganz.
Sie rannte los, mit mir im Nacken, vor der Hitze zurückschreckend. Als sie die Tür erreicht hatte, riß sie sie auf.
»Die Tür zum Turm ist links von dir!« rief ich, obwohl sie mich durch das wütende Röhren der Flammen unmöglich hören konnte.
Sie hielt inne, die Tür geöffnet.
»Geh hinauf!« schrie ich. »Warte nicht auf mich!« und schickte mich an, die letzten Meter zu rennen. »Hinauf mit dir!«
Es rumpelte. Ich drehte mich um und schaute zum Allerheiligsten, in der Erwartung, daß eine der Lichtgaden zusammengebrochen sei. Ein ohrenbetäubendes Krachen erfolgte, und das Fenster in der Smithschen Kapelle zersprang in einem Schauer funkelnder Fragmente.
Ich duckte mich, schützte mein Gesicht mit dem Arm und dachte, bevor mich der Druck in die Knie zwang: »Eine Sprengbombe. Aber das ist unmöglich! Die Kathedrale ist nicht direkt getroffen worden.«
Es fühlte sich aber so an. Der Treffer erschütterte die Kathedrale in ihren Grundfesten und erhellte sie einen Moment lang mit blendendweißem Licht.
Ich taumelte von den Knien hoch und hielt dann inne, den Blick quer übers Kirchenschiff gerichtet. Die Druckwelle des Einschlags hatte die Kathedrale für einen Moment vom Rauch befreit, und im grellweißen Nachglühen konnte ich alles erkennen: die Statue über der Kanzel, die brannte, ihre Hände erhoben wie die eines Ertrinkenden, die Bänke in der Kinderkapelle, ihre unersetzbaren Misererien von einem Feuer von seltsam gelbem Licht verzehrt; den Altar in der Capperschen Kapelle. Und die Chorschranke vor der Smithschen Kapelle.
»Ned!«
Ich wollte hinlaufen, schaffte aber nur ein paar Schritte. Die Kathedrale bebte, und ein brennender Balken krachte vor der Smithschen Kapelle herunter, quer über die Bänke.
»Ned!« schrie Verity verzweifelt. »Ned!«
Noch ein Balken, ohne Zweifel auch verstärkt von J. O. Scott, krachte quer über den ersten, mit schwärzlichen Rauchschwaden, die den gesamten Nordteil der Kirche meinem Blick entzogen.
Aber das machte nichts. Ich hatte bereits genug gesehen.
Ich warf mich durch die Tür, dann durch die Turmtür und die vom Feuer erhellten Stufen hoch, wobei ich überlegte, was, um alles in der Welt, ich bloß Lady Schrapnell sagen sollte. Alles hatte ich gesehen, in jenem winzigen von der Bombenexplosion erleuchteten Moment: die Messingtafeln an den Wänden, den polierte Adler am Lesepult, die geschwärzten Pfeiler. Und im Nordgang, vor der Chorschranke, den leeren schmiedeeisernen Pfosten.
Vielleicht hatte man sie doch vorher in Sicherheit gebracht. Oder als Spende zum Alteisen. Oder bei einem Basar verkauft.
»Ned!« rief Verity. »Beeil dich! Das Netz öffnet sich!«
Lady Schrapnell hatte sich geirrt. Des Bischofs Vogeltränke
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