Die Farben der Zeit
die Entführte festgehalten? Im Einkaufszentrum?« Am liebsten hätte ich sie geküßt.
»Weißt du«, sagte sie und schob ein handgemaltes Plakat mit der Parole: »Architekten protestieren gegen den Bau der Kathedrale« vor ihrem Gesicht weg, »irgendwo hier steht bestimmt ein Zeitreisender, der ein paar hundert Jahre aus der Zukunft kommt und dies alles ungemein charmant und putzig findet.«
»Schwer vorstellbar«, erwiderte ich. »Also, worauf ist Finch aus?«
»Er hat…« begann sie, doch da öffneten sich die Türen, und die Menschenmenge quetschte sich in den Zug, wobei wir erneut getrennt wurden. Ich fand mich ein Abteil von Verity entfernt wieder, eingepfercht zwischen einen alten Mann und seinem ebenfalls nicht mehr ganz jungen Sohn.
»Warum mußte denn die Kathedrale überhaupt wieder erbaut werden?« schimpfte der Sohn. »Wenn sie schon was aufbauen wollten, das zerstört war, warum dann nicht die Bank von England? Die wäre wenigstens zu was gut. Wozu soll eine Kathedrale gut sein?«
»›Gott wählt geheimnisvolle Wege‹«, zitierte ich, »›um uns seine Wunder kundzutun.‹«
Beide starrten mich an.
»James Thomson«, sagte ich. »›Die Jahreszeiten.‹«
Sie starrten noch mehr.
»Ein victorianischer Dichter«, erklärte ich und machte es mir zwischen ihnen bequem, in Gedanken beim Raumzeitgefüge und seinen geheimnisvollen Wegen. Dem Gefüge war es notwendig erschienen, eine Inkonsequenz zu korrigieren, und das hatte es getan, indem es eine ganze Palette Verteidigungsstrategien ins Leben rief, das Netz schloß, Ziele veränderte, den Schlupfverlust manipulierte, damit ich Terence abhalten konnte, Maud zu treffen, und Verity just in dem Moment erscheinen konnte, als Baine die Katze in die Themse warf. Um die Katze zu retten, welche die Maus fraß, die das Malz aß im Haus, gebaut von Klaus.
Das Bahnhofsschild zeigte ›Coventry‹ an, und ich kämpfte mich aus dem Zug, Verity Zeichen gebend, daß sie mir folgen sollte, was sie auch tat, und so schoben und drückten wir uns die Rolltreppen hoch auf die Broadgate, wo wir direkt vor Lady Godivas Standbild landeten. Der Himmel sah noch mehr als vorhin nach Regen aus. Die Protestler setzten sich mit kampfbereit erhobenen Schirmen in Richtung Einkaufszentrum in Bewegung.
»Sollten wir nicht besser vorher anrufen?« fragte Verity.
»Nein.«
»Bist du sicher, daß sie zu Hause ist?«
»Ganz sicher«, sagte ich, auch wenn das nicht ganz stimmte.
Aber sie war zu Hause, obwohl es etwas dauerte, bis sich die Tür öffnete.
»Tut mir leid, mich hat eine Bronchitis erwischt«, sagte Mrs. Bittner heiser, und dann erkannte sie uns. »Oh«, sagte sie und trat einen Schritt beiseite, damit wir eintreten konnten. »Kommen Sie herein. Ich habe Sie erwartet.« Sie streckte Verity eine altersfleckige Hand hin. »Sie müssen Miss Kindle sein. Ich habe gehört, Sie sind auch ein Fan von Detektivromanen.«
»Nur von denen aus den Dreißigern«, erwiderte Verity.
Mrs. Bittner nickte. »Die sind auch die besten.« Sie wandte sich mir zu. »Ich lese eine Menge Detektivromane. Ich liebe besonders diejenigen, in denen der Verbrecher beinahe unentdeckt davongekommen wäre.«
»Mrs. Bittner«, sagte ich, dann wußte ich nicht weiter. Ich warf Verity einen hilflosen Blick zu.
»Sie haben es herausgefunden, nicht wahr?« sagte Mrs. Bittner. »Das habe ich befürchtet. James sagte mir, daß Sie seine zwei fähigsten Studenten gewesen seien.« Sie lächelte. »Wollen wir nicht ins Wohnzimmer gehen?«
»Ich… ich fürchte, dazu reicht die Zeit nicht…« stotterte ich.
»Unsinn«, entgegnete sie und ging vor uns den Korridor entlang. »In den Romanen ist dem Verbrecher stets ein Kapitel gewidmet, in dem er seine Untaten gestehen kann.«
Sie führte uns in das gleiche Zimmer, indem ich sie neulich interviewt hatte. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte sie, auf ein chintzbezogenes Sofa deutend. »Der berühmte Detektiv hat die Verdächtigen immer im Wohnzimmer zusammengerufen.« Sie ging zu einer Anrichte, die beträchtlich kleiner war als die der Merings, und hielt sich an dem Möbelstück fest. »Und der Verdächtige hat ihnen stets etwas zum Trinken angeboten. Möchten Sie einen Sherry, Miss Kindle? Oder Sie vielleicht, Mr. Henry? Oder lieber sirup de cassis? Das trank Hercule Poirot immer. Ein fürchterliches Zeug. Ich probierte es einmal, während meiner Lektüre von Agatha Christies Mord in drei Akten. Schmeckt wie Medizin.«
»Dann einen Sherry«,
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