Die Farben des Chaos
Gefühl, dass ihm etwas entging, aber er war noch zu müde und nicht fähig, der Sache auf den Grund zu gehen. Als die schwarzhaarige Magierin gegangen war, setzte er sich neben Leyladin auf die Bank.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ich soll etwas für Jeslek tun. Es ist nicht schwer, aber ich kann es nicht tun.«
»Du kannst etwas nicht? Ausgerechnet du, nachdem du dir alle möglichen neuen Dinge ausgedacht hast?«
»Ich hatte bisher noch nie viel Glück damit. Ich soll das Spähglas benutzen und beobachten, wie Rystryr oder seine Leute sich die Straßenzölle in die eigene Tasche stecken.«
»Aber das kannst du doch«, beruhigte Leyladin ihn.
»Ich weiß nicht, wie ich mit dem Glas Dinge finden kann, die weder Ordnung noch Chaos enthalten …«
»Cerryl«, widersprach sie, »alles besteht aus Ordnung und Chaos. Es sind jeweils immer nur unterschiedliche Kombinationen. So musst du es dir vorstellen.«
Cerryl rieb sich die Stirn und schob das feine braune Haar zurück, das schon wieder zu lang geworden war. »Verstehen kann ich es, aber wie soll ich es tun?«
»Du übst einfach, bist du weißt, wie es geht.« Sie lächelte. »Es ist genau wie bei allen anderen Dingen. Wenn andere es können, dann kannst du es auch. Das Gegenteil ist allerdings nicht wahr und dafür solltest du dankbar sein.«
Er nickte langsam.
»Du bist müde, aber du kannst es schaffen. Soll ich mitkommen?«
»Nein. Ich glaube, Lyasa wird bald zurück sein und ich bin im Augenblick sowieso nicht sehr gesprächig.«
»Und außerdem bist du unzufrieden, weil du den Auftrag nur unvollkommen erfüllen kannst.«
Cerryl nickte unglücklich.
»Du schaffst das schon.« Sie lächelte ihn warm an. »Ganz bestimmt.«
Er kehrte langsam in sein Zimmer zurück und klammerte sich an ihre tröstenden Worte. Er war müde, aber … er musste wieder einmal etwas Neues lernen. Besteht das Leben nur daraus, immer wieder neue Dinge zu lernen? Er blieb unwillkürlich stehen, als er in sich die Antwort vernahm: Jedenfalls wenn du überleben und gut leben willst. Er holte tief Luft und stieg die Treppe hinauf. Seine Gedanken rasten. Wie konnte er herausfinden, wen er mit dem Glas beobachten musste? Vielleicht sollte er mit Menschen beginnen, die das Chaos in sich bündelten …
Shyren … der Magier der Gilde in Jellico. Der Mann hatte genügend Chaos in sich, um leicht mit dem Glas gefunden zu werden. Shyren begegnete zwangsläufig anderen Menschen und mit etwas Mühe konnte Cerryl vielleicht auch deren Abbilder wieder finden, nachdem er sie einmal auf dem Umweg über Shyren gesehen hatte. Vielleicht …
LXX
D ie Gestalt, die Cerryl im Spähglas beobachtete, lief einen schmalen Flur mit Steinwänden entlang. Ein paar Lampen spendeten trübes Licht. Der Mann überquerte in einem Regenschauer, der das Bild im Spähglas verschwimmen ließ, rasch einen Hof und betrat ein anderes Gebäude, wo er eine breite Treppe zum prächtigen Speisesaal hinaufstieg, den Cerryl wieder erkannte.
Er holte tief Luft und ließ das Bild des weiß gekleideten Magiers verblassen. So faszinierend es auch war, Shyren zu beobachten, Cerryl hatte Kopfschmerzen und er musste etwas essen.
Erstaunt über die Dunkelheit in seinem Zimmer, rieb Cerryl sich die Stirn. War es wirklich schon nach Sonnenuntergang? Das bedeutete, dass es zu spät war, um das Abendessen im Speisesaal einzunehmen. Er schob den Stuhl vom Schreibtisch zurück. Das polierte Holz fühlte sich an wie mit feinem Sand bestreut. Mit knurrendem Magen stand er auf und trat ans Fenster.
Er wünschte, er hätte Leyladin noch einmal sehen können, aber sie war bereits nach Lydiar unterwegs, weil Fürst Estalin sich abermals Sorgen um seinen Sohn machte – schon wieder irgendein Anfall. Cerryl konnte verstehen, dass Jeslek sie nach den Ereignissen in Hydolar und angesichts der unsicheren Lage in Spidlar hingeschickt hatte, aber das hieß ja nicht, dass er sich darüber freuen musste, sie nicht in der Nähe zu haben.
Wieder knurrte sein Magen. Er drehte sich um und nahm die dicke Jacke aus dem Schrank. Dann sah er an sich hinunter und wackelte in den neuen Stiefeln, die fast seine ganzen Geldreserven erschöpft hatten, mit den Zehen. Er hatte gerade noch genug übrig, um sich ein Abendessen im Goldenen Widder zu leisten, und morgen konnte er sein Gehalt abholen.
An der Tür drehte er sich noch einmal um und blickte zum Spähglas.
Er konnte natürlich weiter Shyren verfolgen, aber er war sicher, dass der Magier es
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