Die Fastnachtsbeichte
anrollen hörte und
durchs Fenster beobachten konnte, wie der Kutscher und Fräulein Rosa der Madame
Guttier mit einiger Mühe heraushalfen. Sie hatte es vorgezogen, in einem
geschlossenen Wagen durch die Stadt zu fahren, da sie und Rosa trotz der zeitigen
Stunde von Maskierten hätten erkannt und mit der Pritsche geklatscht oder
sonstwie belästigt werden können. Man wies die beiden an, sich auf zwei
gesonderten Stühlen im Hintergrund niederzulassen. Madame Guttier war gekleidet
wie eine wohlsituierte Bankiersgattin, in keiner Weise auffällig oder
übertrieben, nur hatte sie etwas zu viel Schmuck angelegt, während Rosa in
einem bescheidenen Wollkleidchen, dunkelbraunem Mantel mit schwarzem
Plüschkragen und schleierbesetztem Filzhütchen den Eindruck einer braven, zur
Stadt gefahrenen Landwirtstochter machte. Ein leiser Geruch von Veilchenparfüm
und starker Kernseife strömte von ihr aus.
Der Oberstaatsanwalt klopfte kurz mit
dem Knöchel auf den Tisch, öffnete ein nicht sehr dickes Aktenbündel und lehnte
sich zurück. »Ich verzichte darauf«, sagte er nach einem Blick zum Kriminalrat,
»die Anwesenden en bloc zu vereidigen, da es sich um eine Vorverhandlung
handelt, wie sie auf Grund der Strafprozeßordnung vom 7.Januar 1869 und der
zusätzlichen Bestimmungen vom 12. September 1873 bei besonderem Anlaß von der
Staatsanwaltschaft, in Übereinstimmung mit der Untersuchungsbehörde und unter
Ausschluß der Öffentlichkeit, anberaumt werden kann.« Wesentliche Aussagen von
besonderer Bedeutung könnten dann unter Eid wiederholt werden. Jedoch fordere
er die sämtlichen Anwesenden auf, und zwar unter Androhung einer Gerichtsstrafe
im Fall des Zuwiderhandelns, über alles hier Gefragte, Ausgesagte und
Besprochene vorläufig, nämlich bis zur öffentlichen Gerichtsverhandlung,
vollständiges Stillschweigen zu bewahren, um den Gang der Untersuchung nicht zu
erschweren oder zu gefährden. Daß er von jeder zum Zeugnis aufgerufenen Person
eine absolut wahrheitsgetreue Aussage erwarte, bei der nichts hinzugefügt und
nichts verschwiegen werden dürfe, verstehe sich von selbst. Er erteile jetzt
dem Kriminalrat Dr. Merzbecher die Vollmacht zur Befragung.
Sobald dieser, ein auf einem Weingut in
Oppenheim geborener, stadtbekannter Beamter, das Wort ergriff, wich der bei
Classens Rede entstandene peinliche Eindruck, auf der Anklagebank zu sitzen. In
seiner sehr zivilen, eher konversationellen Art teilte Merzbecher den
Anwesenden mit, es sei am Samstag gegen Abend ein Mann ermordet worden, als er
sich gerade im Dom zur Beichte begeben wollte, und es sei in derselben Nacht
ein der Tat Verdächtiger verhaftet worden. Die Untersuchungskommission habe
sich auch schon eine gewisse Theorie über die Umstände der Tat gebildet, doch
sei vieles noch unklar, und man rechne daher auf die Unterstützung der hierher
Gerufenen, soweit ihnen dies möglich sei. Zunächst handle es sich um die
Identifizierung sowohl des ermordeten als des tatverdächtigen Mannes, und er
möchte daher einige Fragen an die Arbeiterwitwe Therese Bäumler aus
Nieder-Keddrich richten.
Die Bäumlern machte, auch nach
mehrmaligem Anruf, keinerlei Anstalten, aufzustehen. Angstvoll und störrisch
starrte sie auf die geballten Hände in ihrem Schoß. Erst als Jeanmarie sie
sanft unterm Arm faßte, entschloß sie sich, sich halb zu erheben, jedoch stand
sie mit geduckten Kniekehlen und schaute nicht zum Podium.
»Seien Sie unbesorgt«, sagte der
Kriminalrat, »es geschieht Ihnen hier nichts, wir bitten Sie nur um eine
Auskunft. Sie sind die verwitwete Therese Bäumler aus Nieder-Keddrich?« Die
Bäumlern nickte kurz mit dem Kopf. »Ihr Mann war Transportarbeiter?« — »Er hat
Ziegel verladen«, murmelte die Bäumlern, »an der Station.« — »Er ist im Jahr
1900 gestorben?« — »Der ist nicht gestorben«, sagte die Bäumlern, »der ist
druntergekommen.« — »Was ist er?« — »Unter den Zug.« — »Also verunglückt. « Die
Bäumlern machte eine Kopfbewegung, die man als Zustimmung oder Ablehnung deuten
konnte. »Sie hatten aus dieser Ehe zwei Söhne, Clemens und Ferdinand?« Die
Bäumlern antwortete nicht, ihr Mund verhärtete sich. »Bitte geben Sie mir eine
kurze Antwort. Sie haben zwei Söhne?« — »Der Clemens«, sagte die Bäumlern, »ist
bei den Soldaten.« — »Und der Ferdinand?«
Die Bäumlern setzte sich mit
einknickenden Knien auf ihren Stuhl zurück, schaute in ihren Schoß, die Lippen
fest verkniffen. »Bitte, Frau Bäumler«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher