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Die Fastnachtsbeichte

Die Fastnachtsbeichte

Titel: Die Fastnachtsbeichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Zuckmayer
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ihr mit einem Schlag alle Lebenskräfte und alle
verschütteten Quellen aufbrechen ließ. Mit einem Ruck stand sie auf und schritt
ohne ihre gewohnte Schwerfüßigkeit, als habe sie ein Recht zum Vortritt, allen
anderen voraus auf die geheimnisvolle Doppeltür zu, die sie dicht hinter den
Gerichtspersonen erreichte.
    Drinnen, in der Mitte des sonst leeren
Raums, auf einer Art Operationstisch, lag eine Gestalt, die mit einem
Leichentuch bedeckt war. Die Fenster des Raums waren geschlossen, schwere
Jalousien herabgelassen, und über dem Tisch mit der bedeckten Gestalt war eine
scharfe, scheinwerferartige Blendlampe angedreht. Die Bäumlern war gleich nach
ihrem Eintritt stehengeblieben und starrte mit weit offenem Mund, aus dessen
Winkel etwas Speichel rann, zu dem Tisch hin. Jeanmarie und Panezza blieben
neben ihr, die anderen Herren stellten sich mit einer Art von Scheu zur Seite.
Mit einer ruhigen, fachmäßigen Bewegung deckte der Gerichtsarzt den oberen Teil
des starren Körpers auf, während Merzbecher den Eingetretenen winkte, näher
heranzukommen. Von beiden Panezzas geführt, stakte die Bäumlern mit versteiften
Knien und herabhängenden Händen voran.
    »Frau Bäumler«, sagte der Kriminalrat
leise und mit einer von Mitgefühl rauhen Stimme, »kennen Sie diesen Mann?«
    Die Bäumlern machte sich von Panezza
und Jeanmarie, die noch immer versuchten, sie unter den Achseln zu stützen,
los. Sie trat noch einen Schritt näher. Sie stand jetzt ganz dicht bei dem
Aufgebahrten. Sie stand kerzengerade. Sie wankte nicht. Ihr Mund hatte sich
geschlossen, ihre Hände falteten sich langsam vor der Brust, ihre Augen
glitzerten heiß und trocken. Dann sagte sie mit einer Stimme, die nicht die
ihre zu sein schien — sie klang wie die eines Kindes: »Ihr habt ihn mir
heimgebracht.«
    Es war ganz still im Raum, man hörte
niemanden atmen, auch die Bäumlern nicht. Merzbecher wollte etwas sagen,
verschluckte es aber. Mitten in die vollständige Stille knarrte die Stimme des
Oberstaatsanwalts Classen: »Ist dies nun also der gewisse Ferdinand Bäumler, ja
oder nein?«
    In diesem Augenblick kam ein heiseres
Keuchen aus der Kehle der Bäumlern, und sie warf sich, ehe es jemand hätte
verhindern können, mit aller Wucht ihres Leibes über den Toten hin, klammerte
sich an seine kalten Schultern, versuchte, ihn aufzuheben und an ihre Brust zu
pressen, bedeckte sein Gesicht mit wilden, verzweifelten, in der Stille laut
schmatzenden Küssen.
    Die Herren standen ratlos herum, von
der Besessenheit dieses Ausbruchs wie festgebannt, und keiner fand einen Weg,
ihn zu beenden oder abzukürzen. Selbst Dr. Henrici, der schon vielen Menschen
in ihrer innersten Not beigestanden hatte, hob nur hilflos die Hände und suchte
nach einem Wort des geistlichen Trostes, das er nicht fand. Auch hätte die
Bäumlern, in ihrem völlig außervernünftigen Toben und Rasen, ihn weder gehört
noch verstanden.
    Hier griff wieder der Oberstaatsanwalt
Classen in einer harten, unzarten, aber diesmal rettenden Weise ein. »Hören
Sie, Frau«, sagte er mit seiner bolzigen Stimme, »Ihr Sohn ist nicht auf
natürliche Weise gestorben. Ihr Sohn ist umgebracht worden«, fügte er noch
etwas lauter und schnarrender hinzu.
    Die wälzenden Zuckungen des schweren
Frauenleibs über der Leiche hörten mit einem Schlag auf. Ihr Kopf hob sich, als
werde sie an den Haaren hochgezogen. »Bei Wahdi Askrah«, murmelte sie, wie wenn
man eine eingelernte Formel wiederholt.
    »Nein«, sagte Dr. Merzbecher rasch, »er
ist nicht bei Wahdi Askrah gefallen, das muß ein Irrtum gewesen sein. Er ist
ermordet worden, in dieser Stadt, kaum eine Stunde von seiner Heimat, und wir
sind hier, um den Mord zu sühnen, an dem, der ihn begangen hat.«
    Die Bäumlern antwortete nicht, niemand
wußte, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Ihr Gesicht war wieder alt und
schlaff geworden, der Gang, als man sie jetzt zu den Stühlen im Nebenraum
zurückführte, schwerfüßig und schleppend. Sie saß wie beim Anfang der
Untersuchung, die Hände im Schoß geballt, den Kopf tief gesenkt, mit
unsichtbaren Augen.
    Auch Panezza schaute auf seine Knie und
hielt die Hände fest ineinander geschlossen, wie jemand, der sich mit
Anstrengung zu beherrschen sucht. Der Anblick der Leiche und das Verhalten der
Bäumlern schienen ihn mehr angegriffen zu haben, als er sich merken lassen wollte.
    Die Beamten hatten wieder auf dem
Podium Platz genommen, nachdem der Kriminalrat sich von Dr. Henrici, Dr.
Carlebach und dem

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