Die Fastnachtsbeichte
Ferdinand gelegen hatte.
Nachdem der Pförtner gegangen war,
winkte Merzbecher den beiden, näher heranzutreten — dann entfernte er
vorsichtig das Tuch von der Gestalt, die Ferdinands Platz eingenommen hatte.
Es war eine kleine Gestalt, klein,
breit und massig, nicht höher als ein normal gewachsener Knabe zwischen zwölf
und vierzehn, doch mit kräftigen Gliedmaßen, von denen besonders die Länge und
die mächtige Muskulatur der Arme auffiel. Brustkorb und Leib waren auch jetzt
noch mit weißen Tüchern bedeckt, aber Arme und Beine waren unbekleidet, und
zeigten dichte Behaarung, die sich bis auf die Handrücken ausdehnte. Die Hände
waren derb und schwielig, mit kurzen, spitzen Fingern, sie erweckten den
Eindruck von pfotenhaften Gebilden, die aber vielleicht einmal sehr flink und
beweglich waren — jetzt lagen sie starr und krallig, wie die Füße eines toten
Hundes. Der Kopf steckte tief und auf kurzem Hals zwischen den starken Schultern,
der Mund stand ein wenig offen, so daß die großen Eckzähne hervortraten, und
schien irgendwie deformiert, wie mit dem Kinn verwachsen, es war wohl das, was
man einen Wolfsrachen nennt. Was vom Gesicht zu sehen war, in dessen Stirn die
dunklen, struppigen Haare tief hinabreichten, hatte eine weiche, kindliche
Form. Es war ein Kindergesicht - bartlos, mit stumpfer kleiner Nase und runden
Wangen. Die Augen, unter dichten Brauen weit auseinanderliegend, waren
geschlossen, mit sanften, wie zum Schlaf gesenkten Wimpern, die Ohren klein und
weiß, und das dichte Haupthaar schien, trotz seiner Struppigkeit, gepflegt und
unlängst geschnitten.
»Kennen Sie ihn?« fragte Merzbecher
leise.
Viola nickte. Sie hatte ihre Lippen
fest aufeinander gepreßt, man sah ihr an, daß sie mit Tränen kämpfte, doch ihre
Augen blieben groß, dunkel und trocken.
Mit einer unendlich liebevollen,
zärtlichen Bewegung, wie eine junge Mutter über ihr schlafendes Kind, beugte
sie sich zu der stillen Gestalt, vor der Panezza ein angstvolles Grauen fühlte,
und begann, das Gesicht zu streicheln — immer wieder und wieder, von den
geschlossenen Augen über die Wangen herab und über den vorgewölbten,
schnauzenartigen Mund und über die struppigen Haare.
»Lolfo«, sagte sie, kaum hörbar, dann
preßte sie ihre Lippen wieder zusammen. Nach einiger Zeit erst schien sie sich
zu fassen, hörte auf, ihn zu streicheln, und ließ ihre Hand auf seinen
geschlossenen Augen ruhn. »Wenn er die Augen öffnen könnte«, sagte sie
plötzlich, »er hatte schöne Augen.« Sie schaute Merzbecher an. »Was ist ihm
geschehn?« fragte sie.
»Er wurde«, sagte Merzbecher in seiner
ruhigen, sachlichen Art, »heute nachmittag tot hier eingeliefert, nachdem er
bei einer Rauferei, in der Nähe der Baracken für die italienischen Arbeiter an
der Zahlbacher Chaussee, gleich vor der Stadt, durch einen Messerstich
umgekommen war. Die Arbeiter erklärten, ihn nicht zu kennen, er hatte sich
ihnen offenbar in der Stadt angeschlossen, es scheint, daß man ihn zum Spaß
betrunken machte und daß er einem der Italiener, der ihn gehänselt oder
vielleicht auch mißhandelt hat, an die Kehle gesprungen ist. Der Mann hatte
tatsächlich Bißwunden an der Kehle, und hat auf Notwehr plädiert. In seiner
Tasche«, sagte er, halb zu Panezza gewandt, »fand man die gesuchte Scheide des
Stiletts, mit dem der Mord am Samstag begangen wurde, die Fingerabdrücke darauf
stimmen genau mit denen auf dem Handgriff der Waffe und mit den seinen überein,
auch ist er von Personen, die ihn beschreiben konnten, um die genaue Zeit am
Eingang des Doms gesehen worden. Es besteht also kaum ein Zweifel, daß er der
Mörder ist.«
Einen Augenblick herrschte Stille, in
Violas Gesicht war ein verstörter, irrer Ausdruck getreten, der allmählich dem
einer furchtbaren Gewißheit wich.
»Wen — hat er gemordet?« fragte sie
leise.
»Er hat«, sagte Merzbecher, »mit einem
Stilett, in dessen Heft ein M eingraviert war, am Samstagabend einen Mann
erstochen, der sich — wie wir vermuten — als Jeanmarie de Panezza ausgegeben
hat.«
Ihre Hand fuhr zu ihrer Kehle — und
dann, mit einem Laut, von dem man nicht wußte, ob er ein Weinen, ein Lachen
oder ein gewaltsam unterdrückter Aufschrei war, sank sie zusammen.
I m Untersuchungsraum nebenan roch es
jetzt nicht mehr nach Farbe, sondern nach starkem Kaffee, den Merzbecher auf
einem Spirituskocher hatte herstellen lassen, es roch auch nach einem
althergebrachten Hausmittel, ›Melissengeist‹, das aus
Weitere Kostenlose Bücher