Die Feen - Hallmann, M: Feen
er.
»Was ist denn los?«, rief Cooper ihm hinterher. »Wo steckt sie?«
»Von Hauenstein hat sie vorhin mit rausgenommen. Für ’ne Stunde, hat er gesagt.«
Schlagartig war Benny hellwach. »Wann war das?«, wollte er wissen, aber Murray war schon um die Ecke. Also lief er ihm hinterher. Für jemanden mit so krummen Beinen war Murray ganz schön schnell unterwegs. »Wann hat er sie rausgeholt?«, wollte Benny wissen.
»Nach dem Mittagessen irgendwann. Weiß nicht mehr genau. Hatte gerade zu tun. Verdammt, das gibt Ärger.«
Benny blieb stehen und ließ ihn ziehen. Nach dem Mittagessen irgendwann. Das war mehrere Stunden her.
Ihm war, als streiche jemand mit einer sehr feinen Feder über sein Rückgrat, kaum spürbar. In seinem Bauch zog es unangenehm, die Eingeweide schienen sich zu einem festen Ball zusammenzuschlingen. Überrascht stellte er fest, dass es genau das Gefühl war, das seine Mutter manchmal beschrieben hatte. Er sah sie vor sich, an diesem einen Abend, als eine Freundin nicht pünktlich war. »Es ist etwas passiert«, hatte sie beharrt. Die Freundin war nur eine Viertelstunde überfällig gewesen, als sie damit angefangen hatte. Benny war elf oder zwölf gewesen, und er wusste noch, dass ihn Scheu befallen hatte, Scheu vor dem Ausdruck in ihrem Gesicht und dem Klang ihrer Stimme.
»Ach Annie, nicht schon wieder eine Ahnung«, hatte der Vater geseufzt und sie von hinten mit den Armen umschlungen. Seine Handrücken waren haarig, das war Benny zum ersten Mal so richtig bewusst aufgefallen, von den Ansätzen der Finger an, er hatte sich ein wenig davor geekelt. »Ahnungen sind nichts als Ängste. Und das Leben ist zu kurz, um Angst zu haben.«
Wie Recht er gehabt hatte! Zu diesem Zeitpunkt hatte Anne Reutter selbst nur noch einen oder zwei Sommer zu leben gehabt. Es nagte an Benny, dass er nicht wusste, ob es einer oder zwei gewesen waren. Aber das änderte nichts an seiner Gänsehaut und dem Schauder, der ihn erfasste. »Mir ist, als ob da drin alles ein einziger Klumpen ist«, hatte sie gesagt und sich aus seinem Griff befreit. Das war für sie ein sicheres Zeichen. Und sie hatte Recht behalten. Ihre Freundin hatte sich auf der Autobahn in ihrem kleinen Golf zweimal überschlagen, als sie aus nie geklärten Gründen von der Fahrbahn abgekommen war. Überhaupt hatte seine Mutter oft Recht behalten mit ihren Ahnungen – nicht immer, aber meistens. Nur bei sich selbst hatte sie offenbar nichts gewarnt. Keine Ahnung, nicht einmal die leiseste, bis es zu spät war.
Und jetzt stand Benny da, im Dämmerlicht von Glenshee, und beim Gedanken an Felix verklumpten sich seine Eingeweide.
Verärgert schüttelte er die düsteren Ahnungen ab. Kunststück, dachte er. Kunststück, solche Ahnungen zu haben, wenn Wolfshunde aus dem Nichts auftauchten, kleine Mädchen plötzlich verschwanden und Sandy Carter einen davor warnte, sich in die Angelegenheiten des Zirkels zu mischen und irgendwelchen Vorkommnissen allzu viel Gewicht beizumessen.
Vor seinem geistigen Auge tauchte das blasse Gesicht von Felix auf. Vollmondrund und vollmondbleich, die Augen erfüllt von schierer Panik. Und jetzt war er auf einem Pferd auf und davon und um Stunden überfällig. Da hätte selbst sein Vater Ahnungen bekommen. Ängste. Das war es, was seine Eingeweide erfasst hatte – Angst. Angst, den kleinen, feigen, offenbar nicht mehr ganz bei Verstand befindlichen Felix heute Nachmittag zum letzten Mal lebend gesehen zu haben.
»Mister Reutter!«, sagte Direktorin Rutherford überrascht und lächelte ihn an. Dann schnupperte sie. »Kommen Sie gerade aus dem Stall? Ihr Strafdienst ist ja nun bald vorbei, richtig?«
Verlegen nickte Benny. »Noch zwei Tage.«
Im Moment sah die Rutherford nicht nach Direktorin aus. Sie trug Jeans und eine weite Bluse, das dunkle Haar hatte sie im Nacken zusammengefasst. Vielleicht hätte er bis morgen warten sollen, statt an der Tür zu ihren Privaträumen zu klopfen. Sie jedoch schien seine Verlegenheit nicht zu teilen. »Was kann ich denn für Sie tun?«, fragte sie.
»Ich würde gern Felix von Hauensteins Akte durchsehen.«
»Felix von Hauenstein«, wiederholte sie. »Sie sind sein Pate, richtig?«
Er nickte. Erleichtert registrierte er, dass sie auf Felix’ Namen nicht weiter reagierte. Offenbar hatte er sich wieder eingefunden. Benny und Cooper hatten den Stalldienst noch eilig fertig gemacht, ohne dass Murray oder die Stute wieder aufgetaucht waren, aber wenn Felix verschwunden gewesen
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