Die Feen - Hallmann, M: Feen
Richard, die sich wieder ganz einander angenähert hatten, waren zwar ein Herz und eine Seele, aber nicht vereint im Spott, sondern in ihrer erstaunlichen Ernsthaftigkeit und Ruhe. Viele andere hatten es schon immer gewusst, einige fanden es nicht schade drum, andere fragten, Felix wer?, manche ließen sich in endlosem Sermon über die Schrecklichkeit der ganzen Angelegenheit aus, es sei eine Tragödie. Gil Darcy hatte es sofort gewusst, schon am Abend von Felix’ Verschwinden, auch sofort an Selbstmord gedacht statt an einen Unfall, es aber nicht sagen wollen. In Bennys Gegenwart war er etwas sparsamer mit seiner Prahlerei, aber es bestand keine Gefahr. Benny war nicht wütend. Sein Zorn war ausgebrannt. Die Erkenntnis, die sich ihm so ungewollt aufgedrängt hatte, ließ ihm die Welt laut und unverständlich erscheinen, zu fremd, um sich ernsthaft darüber aufzuregen. Er betrachtete Gil Darcys Widerwärtigkeit mit demselben neutralen Erstaunen wie Callahans aufrichtige Gutartigkeit. Es waren Oliver und Richard, die sich Darcy schließlich schnappten, zwischen den Sporthallen. Sie schlugen ihn nicht ernstlich zusammen, die Rede war von einigen Hieben in den Magen, ein paar Ohrfeigen, die mehr demütigten als schmerzten, und Drohungen, so wortgewandt, wie man es von den beiden erwartete. Vielleicht hatte auch nur jemand es aufgeblasen, vielleicht hatten sie ihn nur an die Wand gedrückt und nicht fortgelassen, bis er sich angehört hatte, was sie zu sagen hatten, und weil das so unspektakulär war, dichtete man ein paar Schläge hinzu. Benny war es gleich. Jedenfalls blieb der Vorfall ohne Konsequenzen, nur dass sich Gil Darcy und Lester Morgan und auch Nicholas Hunter im Speisesaal andere Plätze suchten, sonst änderte sich kaum etwas. Benny nahm es zur Kenntnis. Auch, dass Oliver und Richard es für ihn getan hatten, sozusagen. Er verspürte den absurden Impuls, ihnen artig zu danken für dieses unerwartete und unnütze Geschenk, etwa so, wie man einer Tante dankt, die einem bei einem Besuch ein Buch mitbringt, das einen nicht interessiert. Aber er verkniff es sich und sagte gar nichts.
»Das Leben vergewaltigte ihn zu einer nicht erstrebten Reife«, kommentierte Oliver schließlich mitfühlend am Ende des vierten Tages nach dem Morgen, an dem man Felix gefunden oder vielmehr nicht gefunden hatte. Es war ein Zitat von Oscar Wilde, wie Richard erklärte, der nicht einverstanden war, wenn sich Oliver mit so prachtvollen fremden Federn schmückte.
»Das Leben kann mich mal«, erwiderte Benny gleichgültig. Es hatte keinen Schwung, es war keine Absage an irgendetwas, er hatte keine Lust, Energie für etwas aufzubringen, das ihn so wenig interessierte. Er war so weit fort, dass er sich nicht danach sehnte, etwas zu fühlen, sondern danach, sich nach der Sehnsucht zu sehnen, irgendetwas als bedeutungsvoll zu empfinden; er stand neben einem Benny, der neben sich selbst stand. So stumpf war er, dass nichts ihn aufregte. Er versuchte es testweise damit, sich vorzustellen, seine Mutter wäre am Leben und würde noch einmal sterben. Er dachte an das Begräbnis, malte sich alle Details aus, die sonst ein Feuerwerk an Zorn und Ekel und Trauer in ihm in Gang gesetzt hatten.
Aber da war nichts. Da war nur ein Grab, in das ein Sarg hinabgesenkt wurde, anderthalb Dutzend Leute, die starr dreinschauten oder sich mit diversen Körperflüssigkeiten in ihre Taschentücher ergossen, ein Vater, der ihn immer wieder anschaute und sich selbst fragte, was er später Benny fragen würde: Warum er nicht weinte. Der ihm Gefühlskälte unterstellen würde, Wochen später, als Benny noch immer keine Regung zeigte. Von dem sich Benny jetzt seltsam verstanden fühlte, als hätte er sich tatsächlich die ganze Zeit etwas vorgemacht. Trauer und Zorn – wenn sie echt gewesen wären, dann konnten sie jetzt doch nicht wie fortgewischt sein? Vielleicht hatte er sich deshalb so hineingesteigert. Um vor sich selbst zu verbergen, dass da nichts war. Dass er nichts empfand. Dass er leer war. Ein Gefäß, in dem nichts war als das, was man hineinfüllte.
Wie war das bei den anderen? Empfanden sie wirklich so vollständig und eindeutig? Wenn Callahan ihn besorgt musterte – tat er das, weil er wirklich Besorgnis empfand? Oder bildete er sie sich nur ein? Glaubte er, dass er sie empfinden sollte, und tat es vor allem deshalb? Und wo eigentlich war der Unterschied?
Am Morgen des fünften Tages öffnete Benny kurz vor dem Wecken die Augen und wusste,
Weitere Kostenlose Bücher