Die Feen - Hallmann, M: Feen
dass er laufen wollte. Seit Felix’ Verschwinden war er nicht mehr gelaufen, nur beim Sportunterricht, wo niemand etwas dazu gesagt hatte, dass seine Zeiten schlecht waren wie noch nie. Er hatte keine Lust, und niemand erwartete es von ihm. Schlechter Drill, fand er. Eigentlich hätte er an einer Schule wie dieser hier weniger pädagogische Einfühlerei erwartet. Etwas militärischer: Reutter, reiß dich zusammen, beweg den Hintern, schlaff rumhängen kannst du, wenn du tot bist, es gibt keine Ausrede dafür, nicht die volle Leistung zu bringen.
Aber hier war es wie überall: Sie überschütteten einen mit Verständnis, ob man es wollte oder nicht, und vermutlich hatte es auch hier wie überall sonst ein geheimes Verfallsdatum, das ihm nicht verraten wurde, einen Zeitpunkt, an dem es einfach verbraucht oder schlecht geworden war und entsprechend entzogen wurde. Der Tod einer Mutter war innerhalb eines Jahres zu verkraften, besser noch eines Halbjahres. Wie lange mochte wohl der Tod des Schützlings seinen Paten von der Verpflichtung freistellen, sich für etwas zu interessieren? Vermutlich nicht länger als einen Monat. Er fühlte sich wie ein Heuchler, denn Felix’ Tod bedeutete ihm ja nichts. Nur die Gedanken an seinen eigenen, die ließen ihn nicht mehr los.
Leise stand er auf und zog sich an. Falls jemand aufwachte, sagte er nichts. Draußen war es noch dunkel, aber es war nicht mehr die tiefe Finsternis der Nacht, der Himmel hatte bereits einen ganz zarten Blaustich. Trotzdem, dunkel war es. Zögernd stand Benny in den dünnen Laufklamotten am Tor und dachte an die Nacht, in der er und Oliver im Dunkeln zu Gins Haus gelaufen waren. Es war windig wie fast immer, überall knisterte und wisperte es. Die Mauer fühlte sich solide und gut an unter seiner Hand, als er darüberstrich. Er dachte an das Pferd im See. Den Kelpie. Es kam ihm fern und unwirklich vor wie alles andere. Mit einem Mal hielt er es für sehr gut möglich, dass er nicht mehr ganz bei Verstand war. Dass er sich alles eingebildet hatte. Dass dies hier sein erster Morgen auf Glen war und er sich in der Nacht alles Mögliche eingebildet hatte. Vielleicht gab es weder Leslie noch Oliver, weder den Wolfshund noch den Kelpie, und Felix war möglicherweise gar nicht tot – weil es ihn nie gegeben hatte. Im ungewohnt klaren bläulichen Licht des bald heraufdämmernden Morgens war das leichter zu glauben, als dass in diesem riesigen See ein Kelpie herumschwamm.
War es kaum merklich heller geworden, oder vielmehr: eine winzige Nuance weniger dunkel? Benny war nicht sicher. Er wusste auch nicht, wie lange er hier schon stand. Lange genug, um zu frieren, er hatte ja auch nur eine Windjacke an und seine Laufschuhe und ansonsten leichte Kleidung. Beim Laufen fror er so nicht, aber Herumstehen und Grübeln hielt einen weniger warm. Jetzt entscheide dich, dachte er. Laufen oder nicht?
Nicht, sagte etwas in ihm. Nicht in der Dämmerung. Nicht an diesem See. Nicht, wenn er nicht wusste, was sich dort draußen herumtreiben mochte.
Bevor er zu einem Schluss kam, sah er eine Bewegung. Möglicherweise hätte er Grund gehabt, sich zu fürchten, nach allem, was passiert war, aber er tat es nicht.
Es war der Wolfshund. Er kam aus den Schatten bei der Brücke getrottet, winselte und trabte eilig wieder davon. So nah an der Burg hatte Benny ihn noch nie gesehen. Er dachte daran, wie Felix mit ihm davongegangen war, eine Hand auf dem knochigen, hohen Rücken.
Ehe ihm bewusst wurde, dass er überhaupt daran dachte, stieß er sich von der Mauer Glens ab und lief dem Tier hinterher.
27 Dämmerung
27 DÄMMERUNG
D er Wolfshund hielt nicht an, um auf ihn zu warten. Er lief nur voran, ohne sich umzuschauen. Wenn Benny beschleunigte, tat der Wolfshund es auch, wurde er langsamer, verhielt auch der Wolfshund seine ausgreifenden Schritte. Schließlich achtete Benny nicht mehr auf ihn und lief einfach, die Arme angewinkelt, der Atem gleichmäßig. Die Schuhe federten noch immer ausgezeichnet, aber bald würde er neue brauchen, er tauschte sie alle sechs Monate aus. Mr. Bane hatte ihm sogar nahegelegt, sich ein zweites oder sogar ein drittes Paar anzuschaffen, damit er sich nicht so sehr an ein bestimmtes Paar gewöhnte, dass er nicht merkte, wenn die Dinger ihren Zenit überschritten hatten. Nächste oder übernächste Woche würden Ausflüge nach Inverness stattfinden, damit die Schüler ihre Weihnachtseinkäufe erledigen konnten, aber für neue Schuhe war es finanziell
Weitere Kostenlose Bücher