Die Feen - Hallmann, M: Feen
öffnete die Augen.
Leslie hockte vor ihm, sein Gesicht in beiden Händen. Besorgt betrachtete sie ihn. »Du Idiot. Ich sag doch, auflassen. Jetzt tut es nicht mehr weh, richtig?«
Richtig. Es tat nicht mehr weh. Schlagartig tat es überhaupt nicht mehr weh. Verwirrt blinzelte er und sah, wie Leslie den Kopf wandte und zaghaft lächelte. Hinter ihr stach ein winziger, blasser Sonnenstrahl über den Talrand und verfing sich in ihrem Haar. Es sah aus, als würde sie leuchten.
»Schau«, sagte sie, gab den Blick frei und ließ sich neben ihm ins Gras plumpsen, erschöpft und ungefähr so anmutig wie sein alter Kater.
Zuerst gab es nichts zu schauen. Ein bisschen heller als vorher war es. Der Sonnenstrahl fiel schräg aufs winterlich dünne Gras, auf Schlammpfützen und die Abdrücke von Rinderhufen. Er kitzelte einen moosigen Stein, und das Moos, so fein, dass es bei der geringsten Berührung nachgeben musste, und so hauchgrün, dass es nicht wie von dieser Welt wirkte, leuchtete auf, ganz zart.
Und aus dem Moos stieg eine winzige Gestalt empor. Eben war da noch nichts gewesen. Dann war da plötzlich etwas. Winzig klein, schmaler als der Durchmesser seines kleinen Fingers. Schemenhaft, weil viel zu schnell, sah er es aufsteigen, sah zarte Glieder, sah ein Wirbeln, sah vielleicht sogar Flügel, spinnwebzart, libellenartig, wirbelnd, flatternd, sah das winzige Ding jubelnd dem Sonnenstrahl entgegensausen – und es zerstob. Kaum einen Lidschlag lang war es dagewesen und löste sich schon auf in einen Haufen Lichtsplitter, winzige, stiebende Funken, die so schnell verglühten, als wären sie nie dagewesen.
Ihm fiel der Unterkiefer nach unten, als hätte jemand die Muskeln und Sehnen durchtrennt, die ihn hielten. »Was …«
»Schscht! Schau.«
Weitere Sonnenstrahlen fielen über den Talrand herein und berührten den Boden, die Gräser, das Fell der Rinder. Eine Flut aus blassgoldenem Licht, die sich schäumend über die Wiese ergoss. Und wo das Licht etwas aufleuchten ließ, dort jubelte etwas Winziges auf, eine Gestalt, ein Wirbeln, ein Funke, der sich in die Höhe schwang und zerstob. Überall waren sie. Überall. Er starrte mit offenem Mund. Die ganze Wiese war ein einziges Meer aus winzigen, kaum sichtbaren Gestalten und noch winzigeren Funken. Auch im rötlichen Fell der Rinder stiegen sie auf, er sah den Schimmer ihres Werdens und Vergehens, starrte, staunte, atmete nicht, vergaß zu blinzeln, brachte es nicht fertig, den Blick abzuwenden. Irgendwann wandte er dann doch das Gesicht zu Leslie und sah, wie sie auch aus ihrem Haar herausknisterten, diese winzigen … diese …
»Elfen«, sagte sie und lachte. »Morgenlichtelfen. Schön, nicht?«
Er streckte die Hand aus und berührte ihr Haar. Eins der winzigen Geschöpfe zerstob direkt zwischen seinen Fingern. Er glaubte etwas zu spüren, eine Berührung, die keine war. Rang nach Luft.
»Schau noch zu«, sagte sie leise. »Gleich ist es vorbei.«
Er wandte wieder den Kopf zur Wiese. Sah Springen und Jubeln und Wirbeln und Stieben und Stäuben. Sah, wie es verebbte, wie das Gleißen zu einem schwachen Schimmer wurde. Hier erhob sich jubelnd noch eins der Wesen von einem Grashalm, dort sogar vom Rand einer Schlammpfütze, von einem Sonnenstrahl vergoldet. Dann war es vorbei.
»Es ist nur das erste Licht«, hörte er Leslie neben sich sagen. »Das lieben sie. Du hast Glück, dass heute ein klarer Tag ist, heute war es wirklich schön. Manchmal sieht man gar nichts.«
Eben war ihm die Wiese hell erleuchtet vorgekommen, jetzt stellte er fest, dass es kaum gedämmert hatte, es war nur der Schimmer des ersten Morgenlichts, noch längst nicht richtig Tag. Die Sonne, die verschlafen über den Talrand blinzelte. Ihm war, als seien Jahre vergangen. Benommen tastete er mit beiden Händen nach Grasbüscheln, um sich an den langen, spröden Halmen festzuhalten. »Wo …«
»Hm?«
»Wo sind sie hingegangen?«
»Zurück.«
»Wohin zurück?«
»Dorthin, woher sie gekommen sind.«
»Woher sind sie gekommen?« Die Sehnsucht, ihnen zu folgen, packte ihn. Die Wiese sah so gewöhnlich aus ohne sie, ohne ihr Springen und Funkeln, so karg und traurig, dass der Anblick ihn schmerzte. Wenn es einen Weg gab, ihnen zu folgen …
»O nein«, sagte Leslie und lächelte. »Nicht feensüchtig werden. Komm, reiß dich zusammen. Dafür haben wir keine Zeit.«
»Feen…«
»Feensüchtig, ja. Gibt es. Vielleicht hätte ich dir für den Anfang besser etwas Scheußliches zeigen
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