Die Feen - Hallmann, M: Feen
Menschenwelt besucht, zweimal gegen unseren ausdrücklichen Willen. Von jedem dieser Besuche ist sie verändert zurückgekehrt. Sie ist nicht mehr das unschuldige Kind, das sie einmal war. Sie trägt Gift in sich. Schleichendes Gift. Traurigkeit. Und die Traurigkeit erinnert ihren Körper daran, dass er aus Fleisch und Blut ist. Sterblich.«
Zu ihrer Überraschung spürte Leslie Tränen in ihre Augen steigen. »Sie ist traurig?«
»Ja.« Die dunklen Augen des Leprechauns brannten anklagend. »Sie ist traurig. Können Sie mir erklären, weshalb? Sie hat alles, was ihr Herz begehren könnte. Wir haben ihr sogar die Burg gebaut, die sie haben wollte. Sie residiert dort drüben wie eine Königin. Sie ist eine Königin. Eine Prinzessin. Ist es nicht das, was kleine Menschenmädchen sein wollen – eine Prinzessin?«
»Sie ist kein kleines Mädchen mehr«, sagte Leslie leise.
»In der Tat«, stimmte ihr der Leprechaun zu, plötzlich ganz nüchtern. »Das ist sie nicht mehr. Die Sterblichkeit ist in ihre Seele gesickert. Wir haben versucht, sie von ihr fernzuhalten. Aber wir haben versagt. Sie ist traurig. Sie ist zornig. Sie ist einsam. Mit alldem haben Sie Recht, Miss Leslie.« Er musterte sie spöttisch. »Und Sie glauben, ein Besuch bei ihrer Mutter würde helfen? Würde die Traurigkeit Ihrer Schwester besänftigen? Die Sehnsucht nach Sterblichem stillen, die unbändige Neugier? Den Zorn um dessentwillen, was ihr genommen wurde und nicht zurückgegeben werden kann, bannen? Hm? Glauben Sie das wirklich?«
Unterschätz den verdammten Kobold nicht, hatte Gin gesagt. Mir ist nicht wohl dabei. Einen Kobold lügt man nicht an. Nicht einen Leprechaun. Nicht, weil es moralisch falsch wäre, o nein, ganz im Gegenteil. Sondern deshalb, weil er es spürt. Das verlogene Pack hat die Lüge erfunden, und es erkennt sie auf zweihundert Meter im Stockdunkeln. Nimm dich bloß in Acht . Das dreckige Pack kennt das menschliche Herz besser, als du denkst.
Aber ihr Herz war nicht menschlich. Das, was sie vorhatte, war es auch nicht. Fest schaute sie ihm in die Augen. »Die Liebe einer Mutter, Mister Kerrigan, vermag mehr, als Sie glauben. Sie kann heilen, was unheilbar scheint. Und der Anblick eines verloren geglaubten Kindes, das lebt, kann das Herz einer Mutter heilen. Ja, ich glaube, dass diese Begegnung heilsam wäre. Für sie beide.«
Ihr war schlecht. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Glaube es selbst, wenn du lügst, dachte sie. Das hatte ihr Alasdair einmal gesagt, vor langer, langer Zeit. Bevor er erfahren hatte, wer sie war. Was sie war. Damals, als er noch ihr Bruder gewesen war.
Mit geneigtem Kopf betrachtete der Leprechaun sie. Das Licht hatte sich nicht verändert, aber jetzt fiel es ganz anders auf seine Züge und ließ die wulstigen Augenbrauen hervortreten, die gewölbten Wangenknochen, die scharf geschnittene Nase. Seine Ohren waren lang und spitz. Die Augen schwarz, allerdings mit Weiß ringsum. Fast menschlich.
»Miss Leslie«, tadelte er milde. »Nun kennen wir uns schon so lange. Und Sie halten es noch immer für nötig, mich anzuschwindeln.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
»Wir hatten uns doch darauf geeinigt«, fuhr er leise fort, »dass ich mich nicht dümmer stelle, als ich bin, richtig?«
Stumm nickte sie. Ihr Mund war trocken. Die Kerrigans lasen mitunter Gedanken, aber nur solche, die sich ganz an der Oberfläche befanden. Hatte sie nicht genug aufgepasst?
»Ich halte mich an Vereinbarungen«, sagte er. »Immer.«
»Immer«, wiederholte sie.
Eine der Vereinbarungen war, dass kein Kerrigan jemals Hand an ein Mitglied der Familie MacGregor legte. Und sie trug den Namen MacGregor. Sie war ein Mitglied der Familie MacGregor. Sie war sicher. Vor ihm jedenfalls.
Unwillkürlich lauschte sie nach draußen. Lauschte, ob sich dort etwas regte. Ein dunkler Schatten. Eine liebliche Stimme. Eine Frage. Ihre Schwester wusste im Traum nicht, was sie tat.
»Miss Leslie«, riss seine Stimme sie in die Gegenwart zurück. »Sie schauen drein, als hätten Sie Angst vor mir. Ist das so?«
Sie schaute ihn an. »Ich weiß es nicht genau«, gestand sie. »Ganz sicher bin ich mir schon lange nicht mehr, wem ich trauen kann und wem nicht.«
»Das bedauere ich sehr.« Langsam wanderte sein Blick an ihr hinunter und wieder hinauf. »Sie sind wie eine Tochter für mich. Sicher, genau weiß ich nicht, was das heißt – eine Tochter, ein Vater. Aber so viel oder wenig ich davon verstehen mag, ich weiß doch, dass
Weitere Kostenlose Bücher