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Die Feen - Hallmann, M: Feen

Die Feen - Hallmann, M: Feen

Titel: Die Feen - Hallmann, M: Feen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maike Hallmann
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Ihrem Bruder? Durch die Sehnsucht, die sie empfindet? Durch ihre Ausflüge, wenn auch nicht in ihrem Körper, so doch in ihren Träumen? Wir wissen es nicht zu sagen. Wir wissen nur, dass sie gealtert ist – durch den bloßen Kontakt mit dieser Welt.« Mit einer etwas abfälligen Geste umfasste er Glenshee, Schottland, Großbritannien, die ganze Welt der Menschen. »Sie kennen die Geschichten von Sterblichen, die in einen Feenhügel gehen und dort eine Nacht verbringen, um zu tanzen. Am nächsten Morgen verlassen sie den Feenhügel wieder und gehen nach Hause. Doch dort wohnen Fremde. Und als sie nachfragen, wo ihre Familie stecke, erfahren sie, dass sie seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit Jahrhunderten tot ist.«
    An Leslies ganzem Körper breitete sich stechend Gänsehaut aus, kein sanfter Schauder, sondern ein Gefühl, als stießen Nadeln durch ihre Haut.
    »Und was geschieht dann mit ihnen, wenn sie das begreifen müssen?«, erkundigte sich der Leprechaun sanft.
    »Ihr Körper altert«, sagte sie wie eine brave Schülerin. »Sie altern in Sekundenschnelle und zerfallen zu Staub.«
    »Richtig.«
    »Aber meine Schwester – sie ist nicht seit Jahrhunderten drüben, sondern seit achtzehn Jahren. Wenn sie begreift, wenn sie aus ihrem Traum erwacht – dann wird sie achtzehn Jahre alt sein. Sie zerfällt nicht zu Staub. Sie ist achtzehn Jahre alt!«
    »Sie verstehen nicht, wie die Zeit zwischen den Welten funktioniert«, stellte er fest. »Die Geschichten über die Menschen in den Feenhügeln – das sind Geschichten. Sie haben einen wahren Kern, aber es sind nur Geschichten. In Wirklichkeit verhält es sich andersherum.«
    »Was meinen Sie damit?«, fuhr sie ihn an. »Was heißt das, andersherum?«
    Zu ihrer Erleichterung antwortete er ohne Umschweife. »Ihre Schwester hat nicht achtzehn traumverlorene Jahre hinter sich, die in ihrer Erinnerung auf eine einzige Nacht zusammenschrumpfen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie hat Jahre damit verbracht, einen einzigen Atemzug zu tun. Sie hat beobachtet, wie ein Baum wächst, von Anfang bis Ende – und sich dafür mehr Zeit genommen, als einem gewöhnlichen Menschen überhaupt zur Verfügung steht. Zeit ist bei uns im Übermaß vorhanden, Miss Leslie. Sie ist nicht begrenzt. Sie hat keine Folgen, denn sie wird uns nicht geizig zugemessen. Man nimmt sich davon, so viel man nur mag. Und Ihre Schwester hat aus dem Vollen geschöpft. Ich kann nur schätzen, welches Gewicht mit einem Mal auf ihren Schultern läge, wenn sie hier herüberkäme und von ihr eingefordert wird, was sie so bedenken- und reuelos verbraucht hat. Wir haben ihr von allem so reichlich gegeben, wie sie nur wollte. Und das, was sie vor allem wollte, war Zeit.«
    Leslies Magen war kalt und schien einen eigenen Herzschlag zu besitzen. Sie wartete.
    »Zweihundert Jahre werden es schon sein«, sann er. »Vielleicht auch dreihundert. Ich zähle die Jahre nicht. Aber es sind mit Sicherheit nicht viel weniger. Wie lange beträgt noch einmal die Lebensspanne eines Menschen, Miss Leslie?«
    Ein Jammerlaut hallte durch das Eckzimmer. Natürlich entstammte er Leslies eigener Kehle, aber ihr war, als hätte ein anderer ihn ausgestoßen. »Dann kann sie nicht zurück«, flüsterte sie. »Alasdair hat Recht. Es gibt keine Möglichkeit. Sie kann nicht zurück! Sie würde sterben, richtig? Sie würde einfach zu Staub zerfallen. Es gibt keine Möglichkeit!«
    »Ach, Miss Leslie«, begütigte der Kerrigan freundlich. »Nun verzweifeln Sie doch nicht gleich. Das, was Ihnen vorschwebte, das ist tatsächlich nicht machbar. Aber es gibt doch immer mehr als nur eine Möglichkeit. Man muss sich nur ein wenig Mühe geben. Man muss nur ein wenig nachdenken.«
    Wie gebannt hing sie an seinen Lippen. Sie merkte es selbst, und sie wollte es nicht, aber gegen ihren Willen lauschte sie ihm mit der Inbrunst einer Todgeweihten, die auf einmal hört, dass doch Hoffnung bestünde. »Und welche Möglichkeit gäbe es?«, fragte sie, als er keine Anstalten machte, weiterzusprechen.
    »Wenn sie hier herüberkäme«, sagte er, »dann bräuchte sie einen Körper, der sich nicht daran erinnert, dass er seine Zeit längst überschritten hat. Einen Körper, der die ihm zugemessene Zeit noch nicht aufgebraucht hat.«
    »Einen Körper«, wiederholte sie. Ihre Gedanken rasten. Langsam strich sie mit den Händen, mit ihren kleinen Händen mit den etwas krummen Fingern, über ihren Leib. Über Schultern, flache Brust, Bauch und Hüften. »Einen

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