Die Feen - Hallmann, M: Feen
beim Kamin saß der Kerrigan mit übergeschlagenen Beinen auf einem der Kissen, die auf der tiefen, erkerartigen Fensterbank lagen. Ein Tablett mit Tee stand neben ihm.
Er lächelte ihr entgegen, im schwachen Licht sahen seine Züge fast menschlich aus. »Miss Leslie. Sie sind pünktlich.«
»Pünktlich«, sagte sie verwirrt und musste an Benny denken – jetzt fing sie auch schon so an wie er.
»Pünktlich für den Tee«, erklärte er. »Ich habe mir gedacht, dass Sie heute noch vorbeischauen.«
»Sehr aufmerksam von Ihnen«, dankte sie und setzte sich auf ein anderes Kissen in der Nische. Sehr nah saßen sie sich gegenüber und betrachteten einander. »Woher wussten Sie, dass ich kommen würde?«
Nonchalant zuckte er mit den Schultern. »Ich kenne Sie schon sehr lange, Miss Leslie. Sozusagen in- und auswendig.« Er kicherte, wurde aber gleich wieder ernst. »Dies ist Ihre Zeit. Die Dämmerung. Ich dachte, wenn Sie heute noch einmal vorbeischauen, dann in der Dämmerung.«
»Sie wissen mir manchmal ein bisschen zu viel, Mister Kerrigan.«
»Ich kann mich ein wenig dumm stellen, wenn Ihnen das mehr behagt, Miss Leslie.«
Sie überlegte. »Nein, vielen Dank. Ein freundliches Angebot, aber so ist es mir lieber, glaube ich.«
»Sehr verbunden.«
»Sie wissen, weshalb ich hier bin?«, erkundigte sie sich.
Seine scharfen kleinen Augen funkelten. »Ich ahne es. Aber bitte – erzählen Sie.«
»Ich möchte meine Schwester sehen«, sagte sie unumwunden.
Der Kerrigan nickte bedächtig. »Ihre Schwester«, sagte er.
»Ich denke, ich kann sie so nennen«, sagte sie, schärfer als beabsichtigt.
»Oh, das können Sie mit Sicherheit. Ihre Verbindung reicht tiefer, als man das von normalen Schwestern behaupten könnte, möchte ich meinen.«
Vorsichtig pustete Leslie über den Tee und nippte daran. Er war genau richtig, stark und süß und heiß. »Ich glaube, dass sie unsere Mutter sehen sollte«, sagte sie und stellte den Tee ab. Ruhig erwiderte der Kerrigan ihren Blick.
»Es wird nicht besser mit ihr«, fuhr Leslie unbeirrt fort. »Sie sehnt sich nach ihrem verlorenen Kind. Niemand kann es ihr ersetzen. Erst recht nicht ich. Und … ich weiß, ich verlange viel. Ich weiß nicht einmal, ob es möglich ist. Aber wenn wir davon ausgehen, dass es eine Verbindung zwischen meiner Schwester und mir gibt, dann spüre ich möglicherweise, wie es ihr geht. Ich möchte nicht behaupten, dass Sie sich schlecht um sie gekümmert haben, ganz sicher nicht. Aber sie ist und bleibt trotz allem doch ein Mensch. Und ein Mensch braucht Menschen um sich. Ich weiß, dass Sie sie nicht zurückgeben können. Aber ein Ausflug, ein Besuch … einmal ihre richtige Mutter sehen. Meinen Sie nicht, das wäre möglich? Meinen Sie nicht, das würde ihr helfen?«
»Hm-hm«, machte der Kerrigan. »Helfen. Sie sind also der Meinung, sie brauche Hilfe, Ihre Schwester, Miss Leslie?«
»Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass Sie sich nicht dumm stellen«, erwiderte sie. »Der Tee ist übrigens sehr gut.«
»Vielen Dank.«
»Sie braucht Hilfe, nicht wahr?«, fragte sie. »Es geht ihr nicht gut. Sie ist wütend. Sie ist müde. Sie ist einsam. Ich spüre es. Sie wissen es doch auch?«
Lange hielt der Kerrigan ihrem Blick stand. Dann schaute er aus dem Fenster. »Wir haben uns gut um sie gekümmert.«
»Das weiß ich.«
»Wir haben ihr alles gegeben, was sie wollte. Sie hat mit Feen gespielt. Sie hatte eine Wiege aus Gold. Wir haben sogar Weihnachten mit ihr gefeiert, obwohl das, wenn diese Offenheit gestattet ist, ein furchtbar albernes Fest ist. Aber Menschenkinder lieben es. Wir haben sie mit Geschenken überhäuft.«
Stumm nickte Leslie, in ihrer Kehle steckte ein dicker Klumpen.
»Wir haben ihr zu essen gegeben, was immer sie wollte«, fuhr er fort. »Ihr Geschichten erzählt. Ihr alles erlaubt.«
»Alles – bis auf Besuche in der Menschenwelt«, sagte sie leise. »Sie muss sich im Traum hinausstehlen, ist es nicht so? Nur in ihren Träumen kann sie die Welt besuchen, der sie entstammt. Das ist es doch, wie die Schwarze Banshee entstanden ist. Sie lassen sie nicht hinüber, wenn sie wach ist.«
»Weil es gefährlich ist! Miss Leslie, Sie verzeihen mir hoffentlich, wenn ich das so direkt sage, aber die Sterblichkeit, sie klebt hier in jedem Winkel. Ich halte das aus, ich bin nicht sterblich. Trotzdem zieht sie manchmal an mir. Ihre Schwester – sie würde sehen, wie hier alles altert. Wie sich alles verändert. Dreimal hat sie die
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