Die Feen - Hallmann, M: Feen
musste an die Geschichte von dem alten Weiblein denken, das sich von Wanderern tragen ließ und dabei immer schwerer wurde. Leslie wog den ganzen Weg über fast nichts, aber der Gedanke an Gin und Oliver wurde immer schwerer, und als er endlich vor Gins Tür stand, überlegte er fast, Leslie einfach nur auf der Schwelle niederzulegen und sich fortzustehlen. Er wollte Gins Augen nicht sehen, wenn sie Leslie sah, er wollte ihren Schrei und ihr Weinen nicht hören, und er wollte nicht wissen, wie Oliver reagierte. Und vor allem wollte er nicht erklären, was geschehen war. Durchs Tal wehte der übliche Nebel, und er fragte sich, ob Grau irgendwo dort draußen war.
Lange stand er vor der winzigen Tür des winzigen Häuschens, in dem Gin nun doch ganz allein sein würde. Endlich griff er Leslies Körper ein wenig anders, so dass ihr Kopf in seiner Ellbeuge ruhte, und klopfte.
Nachspiel
NACHSPIEL
D ie Heizungen in der Bibliothek waren lauwarm, aber Benny kam es vor, als müssten sie glühen, so heiß war ihm. Er saß am Rechner und starrte auf den Monitor, auf dem eine leere Mail darauf wartete, geschrieben zu werden. Endlich tippte er:
Hallo Erik,
was hier passiert ist, wirst Du nicht glauben. Wo fange ich an? Also …
Ratlos ließ er die Hände sinken und lehnte sich zurück. Wo anfangen? Wo aufhören? Wie sollte Erik verstehen, was passiert war – und wie sollte er es glauben? Er schaute auf die Zeitanzeige in der unteren rechten Ecke des Monitors. Seit fast zwei Stunden saß er hier schon, hatte ungezählte Male ein oder zwei erste Sätze geschrieben, sie angestarrt und wieder gelöscht. Er löschte auch diese, beugte sich vor und legte das Gesicht in die Hände. Leslie. Der Kelpie. Das unaufhörliche Huschen in den dunklen Winkeln von Glen. Alasdairs steinernes Gesicht, als sie einander auf dem Korridor begegnet waren.
Gins Augen, als sie die Tür geöffnet hatte. Gins Schweigen. Gins vollkommenes Schweigen. Sie hatte ihm Leslie abgenommen, sie aufs Sofa gelegt und stumm betrachtet. Ihr Gesicht gestreichelt. Nicht geweint. Nichts gesagt. Und vor allem: Nichts gefragt. Benny hatte erklären wollen, was geschehen war, aber sie hatte ihn nicht gehört. Als zählte es nicht, wie es geschehen war, nur, dass es geschehen war. Irgendwann, vermutlich hatten sie es nicht lange ausgehalten, vermutlich waren nur wenige Minuten vergangen, waren Benny und Oliver vor ihrem Schweigen geflohen.
Oliver … er hatte alles wissen wollen. Benny glaubte noch immer seinen Krallengriff um die Oberarme zu spüren, als Oliver ihn vor dem Haus gepackt und tonlos gezischt hatte: »Was zum Teufel ist passiert?«
Ihm hatte er es erklären können, er war ja dabei gewesen. Aber wie sollte man es jemandem erklären, der nichts wusste? Es war nicht möglich, begriff er. Es war ganz einfach nicht möglich. Vor allem, weil er selbst nicht alles verstand. Plötzlich fühlte er sich einsam, und so sehr er Einsamkeit sonst schätzte, diesmal tat es weh.
Erneut beugte er sich vor.
Hallo Erik,
bist Du über Weihnachten zu Hause? Ich komme in den Ferien nach Hamburg. Wär schön, Dich mal wiederzusehen.
Grüße und so,
Benny
Er schickte die Mail ab, starrte noch eine Weile auf den Monitor und schrieb rasch eine zweite Mail:
Hallo Papa,
habe das Flugticket zerrissen. Habe es mir aber anders überlegt. Bitte schick mir ein neues, ich würde gern an Weihnachten zu Hause sein.
Benny
Diese Mail starrte er lange an, bis er sie abschickte. Dann lehnte er sich wieder zurück, schaute auf den Monitor und seufzte. Was soll’s?, dachte er. Zu Hause – ein richtiges Zuhause gab es für ihn nicht. Aber immerhin würde er zu Weihnachten im vertrauten Wohnzimmer sitzen, vermutlich auch dieses Jahr ohne Tannenbaum, würde mit seinem Vater ein von Frau Berger vorbereitetes und aufgewärmtes Essen verspeisen und nachts in seinem eigenen Zimmer einschlafen. Es gab Schlimmeres.
Kurz entschlossen beugte er sich wieder vor, gab in die Betreffzeile einer neuen Mail »P.S.« ein und schrieb:
Ich hätte dieses Jahr gern einen Tannenbaum, wenn es Dir nichts ausmacht. Danke, Benny.
Ehe er nachdenken konnte, schickte er auch diese Mail ab. Dann saß er da und fragte sich, wie Gin Weihnachten verbringen würde. Vermutlich würde sie morgens wegfahren, in ein Dorf in der Nähe, in dem es eine Kirche gab, um irgendeiner Messe beizuwohnen. Oder hatte sie ihren Plan, wieder in die Kirche zu gehen, nach Leslies Tod aufgegeben? Am liebsten hätte er sie gefragt.
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