Die Feenflöte
lassen. Nun hatte er Angst um sie. Ihre Gegenwart war eine große Unterstützung für ihn. Brachte er sie jetzt in große Gefahr?
Am Flughafen Shannon nahmen sie den vorbestellten Mietwagen in Empfang. Die Fahrt würde über zwei Stunden dauern. Das Wetter war wie so oft sehr launisch, gelegentlich ging ein kurzer Schauer nieder, ein böiger Wind blies über das Land. Je mehr sie sich Seans Heimat näherten, je mehr er wiedererkannte, desto intensiver bestürmten ihn Erinnerungen aus seiner Jugend. Das ganze Sammelsurium von Streichen, die er mit den anderen Jungs verübt hatte, über langweilige Stunden in der Schule, Streitereien mit seinen beiden jüngeren Brüdern, erste Schwärmereien für Mädchen, und später heimliche Rendezvous kamen ihm in den Sinn. Weniger angenehm war die Erinnerung an den frühen Tod seines Vaters, der bei einem Arbeitsunfall umgekommen war, und wie schwer es für seine Mutter gewesen war. Heute verstand er besser, warum sie selbst später so hart geworden war. Sie hatte es nicht leicht gehabt im Leben. Erst nachdem er seinen Durchbruch in Amerika gehabt hatte, hatte er wieder Kontakt mit seiner Familie aufgenommen. Zwei Jahre später, auf seiner ersten Konzertreise nach Japan, hatte ihn die Nachricht von ihrem plötzlichen Tod erreicht. All das war verknüpft mit seiner Heimat, in die er jetzt zum ersten Mal zurückkehrte.
Schließlich erreichten sie die Ortschaft. Wenige hundert Meter später bog Sean links ab und nahm eine Straße, die kurze Zeit später wieder aus dem Ort hinausführte.
"Viel hat sich nicht verändert," stellte er fest.
"Wir müssen den Wagen hier stehen lassen und den Fußweg in die Hügel nehmen."
Als sie ausstiegen, brach die Sonne durch die Wolken.
Normalerweise hätte Catherine die Schönheit der Landschaft bewundert, doch heute hatte sie keinen Sinn dafür.
"Sean, glaubst du noch immer, es ist richtig, was du vor hast?"
"Glaubst du noch immer, es sei richtig, mich zu begleiten in dieses Abenteuer?"
"Soll das heißen, du hast so wenig Zweifel wie ich?"
"Genau das."
Stumm folgten sie dem schmalen Pfad.
"Verflixt! Es ist doch einiges zugewachsen mit den Jahren. Man erkennt den Weg kaum noch."
Sean sah sich um.
"Irgendwie hatte ich es anders in Erinnerung. Also gut, hier entlang, dieser Weg sollte zur Ruine führen."
Der Blick vom Hügel auf die umliegende Landschaft war ihm vertraut und mit der Erinnerung an viele schöne Stunden verbunden. Noch immer hatte die Luft diesen erfrischenden Charakter, den er stets geliebt hatte.
"Ich habe nicht gedacht, ich würde jemals hierher zurückkehren."
"Hier hat sich die Geschichte also ereignet." sagte Catherine.
Sean nickte.
"Ich glaube, da drüben habe ich gesessen und Flöte gespielt. Die Fee hat mich dann noch weiter den Hügel hinauf geführt. So genau weiß ich nicht mehr, wo das war."
"Wo willst du jetzt spielen?"
Sean wies in die Richtung.
"Da oben, wenigstens ungefähr dort, wo der Eingang ist. Oder damals gewesen ist."
Seine Hände zitterten leicht, als er die Flöte aus dem Instrumentenkasten nahm. Er betrachtete sie noch einmal ganz intensiv. Sie hatte ihn viele Jahre hindurch begleitet, hatte seinen Erfolg mit ihrer unnachahmlichen Qualität gefördert. Heute würde er sich von ihr trennen müssen, zusammen mit dem geheimnisvollen Feenbuch. Für das Konzert übermorgen würde er die andere Flöte nehmen müssen, auf der er bislang jedoch wenig gespielt hatte.
"Wird ein gewaltiger Unterschied sein, obwohl ich die letzten Tage versucht habe, mich mehr an sie zu gewöhnen. Trotzdem werde ich gut sein," dachte er sich.
"Falls es überhaupt ein Konzert geben wird..." fügte er in Gedanken hinzu.
Sean setzte die Flöte an und begann zu spielen. Als erstes blies er eines der alten irischen Stücke, die er einst auf diesem Hügel geübt hatte. Während des zweiten Stücks stieg seine Anspannung, doch nichts geschah. Jetzt wurde es endgültig ernst. Mit großer Konzentration, und so präzise wie es ihm möglich war begann er, die kurzen Stücke zu spielen, die er dem Feenbuch entnommen hatte.
Mit klopfendem Herzen beendete er sein Spiel und schaute sich um. Nichts war geschehen, rein gar nichts. Hatte er sich die Sache zu leicht vorgestellt? Zweifel beschlichen ihn, ob es richtig war, was er tat, ob es überhaupt funktionieren würde. Gab es nicht genügend Geschichten, in denen ein Mensch vergebens versuchte, ein zweites Mal ins Reich der Feen einzudringen? Vielleicht war das unmöglich,
Weitere Kostenlose Bücher