Die Feenflöte
vielleicht konnte es nur die eine Begegnung im Leben eines Menschen geben. Falls das wirklich so war, würde er nichts erreichen. Zum Aufgeben war es allerdings noch zu früh.
Als Sean die Flöte ansetzte, schien ringsherum Stille einzutreten. Der Wind war immer schwächer geworden, jetzt hört mit einem Schlag jede Luftbewegung auf. Das schönste und komplizierteste Stück hatte er sich bis zuletzt aufgehoben. Bis hierher war er in die Geheimnisse des Buches vorgedrungen. Nicht nur Catherine war abermals tief berührt, auch er selbst fühlte deutlich, wie sehr die Töne sein Herz erfaßten, wie viele Gefühle sie gleichermaßen ausdrückten und hervorriefen.
Kaum hatte er die Flöte abgesetzt, fühlte er für ein oder zwei Sekunden ein schwaches Vibrieren des Bodens unter seinen Füßen. Dann ging alles blitzschnell. Ungefähr zehn Meter vor ihnen lag unvermittelt eine höhlenartige Öffnung in den Hügel, aus dem rasend schnell etwa ein Dutzend kleinwüchsiger Gestalten hervor stürmte und sie umzingelte.
Ihre bärtigen, knollennasigen Gesichter waren unansehnlich, ihre Körper steckten in einer Art Rüstung, die aus dicken, ledernen Teilen gefertigt war. Während die eine Hälfte der Gruppe dicht um sie herum stand, bereit, jeden Augenblick zuzupacken, stand die andere Hälfte in höchstens drei Metern Entfernung und legte mit zierlichen, metallisch schimmernden Armbrüsten auf sie beide an. Im nächsten Augenblick trat eine Gestalt aus der Öffnung vor ihnen, ein hagerer Mann mit langem, weißem Haar und ebenso langem Bart, bekleidet mit einem weiten schwarzen Umhang. Er rief ein kurzes Kommando in einer unbekannten Sprache, begleitet von einer eindeutigen Geste seines Arms.
Augenblicklich wurden sie vorwärts gestoßen. Obwohl die Kämpfer ihnen kaum über die Hüfte gingen, waren sie kräftig und handelten sehr entschlossen. Sie stolperten in die Öffnung hinein, wurden einen Gang entlang getrieben, während die Schützen unvermindert auf sie zielten.
Der stollenartige Gang durchs Erdreich endete vor einem schweren Portal aus gemauerten Felsblöcken, dessen Flügel sich beim Näherkommen lautlos öffneten und hinter ihnen sofort wieder ebenso lautlos schlossen.
Der Weißhaarige blieb in einem großen, quadratischen Raum stehen, von dem aus in jeder Richtung ein Gang in die Tiefe führte. Die Armbrustschützen versammelten sich am Ende des Ganges, aus dem sie soeben gekommen waren und senkten ihre Waffen. Zweifellos sollte ihnen ein möglicher Fluchtweg wirkungsvoll abgeschnitten werden. Die ganze Aktion mochte zwei oder drei Minuten gedauert haben.
Trotz seiner Angst hielt Sean dem forschenden Blick des alten Mannes stand. Dieser trat an Sean heran und heftete seinen Blick an die goldene Flöte, die Sean mit beiden Händen festhielt. Für einen Moment erschien ein ungläubig-staunender Ausdruck auf seinem Gesicht, dann schaute er wieder so ungerührt wie zuvor.
"Bist du Sean Dennehy?" fragte er.
"Der bin ich."
"Bist du wirklich so mutig oder einfach nur unglaublich dreist, hierher zu kommen?"
"Ganz gewiß nicht dreist. Vielleicht mutig, vielleicht auch etwas anderes."
"Was soll das heißen?"
"Ich habe euch etwas mitgebracht. Etwas, das wahrscheinlich noch viel wertvoller für euch ist als die Flöte, um die es euch ganz bestimmt geht."
Sean machte bewußt eine Pause.
"Sprich weiter."
"Ich bringe euch beides, ich tue es aus freiem Willen und aus guten Gründen. Dafür jedoch verlange ich – mit allem Respekt – angehört zu werden vom Weisen Rat."
Der alte Mann blickte Sean fest in die Augen. Er verbarg sein Erstaunen vor diesem Menschen, der den Mut hatte, so aufzutreten. Einem solchen Verhalten und dem in dieser Form vorgebrachten Wunsch brachte man im Feenreich Respekt entgegen.
"Der Weise Rat wird dich anhören," sagte er mit einem Kopfnicken.
"Wer ist diese Frau?"
"Meine Begleiterin."
"Sie wird in unserer Obhut warten."
"Nein," widersprach Sean entschieden.
"Sie ist meine Begleiterin. Also wird sie mich weiter begleiten. Im übrigen ist es gut möglich, daß sie dem Weisen Rat die eine oder andere Frage in der Angelegenheit beantworten kann."
"Wie kann dieser Mensch so stark sein?" überlegte der alte Feenmann. "Er muß doch wissen, daß er die Feenburg allein mit menschlicher Kraft niemals verlassen könnte. Oder verfügt er über eine überlegene Waffe? Oder mächtige Verbündete?"
Ohne sich seine leisen Zweifel im geringsten anmerken zu lassen, sagte er zu Sean
"Also gut, da
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