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Die fernen Tage der Liebe

Die fernen Tage der Liebe

Titel: Die fernen Tage der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James King
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wollte lachen, aber ein plötzlicher Schmerz auf seiner Stirn ließ ihn zusammenzucken.
    »Wo warst du denn nur?«, fragte April. »Du hast mich doch am Bahnhof abgesetzt, aber dann bist du da nicht wieder aufgetaucht.
     Am Ende bin ich drauf gekommen, dass du vielleicht hier sein könntest, aber als ich ankam, warst du hier auch nicht. Und dann
     komme ich nach draußen und finde dich, und du bist am Bluten und was nicht noch. Was ist denn mit dir los?«
    Bill fragte sich, ob dies wohl sein letzter zusammenhängender Gedanke sein würde: die Erkenntnis, dass er an einer dreckigen
     Bushaltestelle saß; dass er noch nicht einmal den Namen der Stadt kannte, in der er sich befand; dass nicht Clare oder Mike
     oder Nick oder Marcy bei ihm waren; dass er schon wieder ein Versprechen nicht halten würde, nämlich das, was er seiner Enkelin
     gegeben hatte, die ihn gerade anflehte, doch etwas zu sagen, die Augen aufzumachen.
    Bill war gar nicht aufgefallen, dass er sie zugemacht hatte. Eine heiße Woge, ein Welle aus Nadeln und Reißzwecken und Glassplittern
     schrammte ihm über die Stirn. Eigentlich fühlte sich der Schmerz gar nicht mal übel an; irgendwie reinigend. Bill wartete
     darauf, dass man ihm hochhalf, er
erwartete
, dass man ihm hochhalf, damit er aufstehen und die Szenerie betrachten konnte: einen alten Mann, ein junges Mädchen und um
     sie herum gleichgültiges, geschäftiges Leben. Er wusste, er würde hoch und höher steigen, bis ihrer beider Gestalten immer
     kleiner wurden und schließlich schmolzen wie Schnee, während er selbst immer höher in den Himmel stieg.

30
    April erklärte es sich so, dass sie wahrscheinlich »auf Autopilot« gewesen war. Den Begriff gebrauchten Keith Spinelli und
     seine Kumpels ständig, wenn sie über Sport redeten.
Der war echt auf Autopilot, Mann
, sagte immer einer, so als ob irgendein blöder Sportler übers Wasser gelaufen wäre. Früher hatte sie das immer genervt, wenn
     sie Bücher aus ihrem Schließfach geholt oder in der Cafeteria gesessen und sich diesen Blödsinn hatte anhören müssen. Werdet
     endlich mal erwachsen, hatte sie gedacht.
    Aber jetzt hätte sie alles dafür gegeben, wenn sie nur wieder dieses Geschwafel hätte hören können oder dabei sein, wie Heather
     völlig gaga wurde, nur weil irgendein Blödmann mit Keith Spinelli über Autopilot quatschte. Alles, alles hätte sie gegeben,
     wenn sie nur irgendwo anders gewesen hätte sein können als am Bahnhof von Salt Lake City.
    Das Typische am Autopiloten ist, dachte April, dass man alles mitkriegt, aber eben nicht in dem Moment, wo man es macht, sondern
     erst später, wenn alles vorbei ist. Zum Beispiel, wie sie ihren Großvater auf dem Bürgersteig vor der Bushaltestelle gefunden
     hatte, mit diesen ganzen Leuten herum, während er sich ein blutdurchtränktes Taschentuch an die Stirn gehalten und lautstark
     jede medizinische Hilfe verweigert hatte; wie sie ihm das Taschentuch regelrecht hatte entwinden müssen, um sicherzugehen,
     dass er auch wirklich nicht mehr blutete; wie sie ihn zurück zum Amtrack-Bahnhof geführt hatte, während er irgendeinzusammenhangloses Zeug vor sich hin brabbelte. Und da waren sie jetzt, saßen nebeneinander auf zwei Plastiksesseln und warteten
     auf einen Zug, in den sie – das wurde April von Minute zu Minute klarer – mit Sicherheit nicht würden einsteigen können.
    Der Geschäftsmann war inzwischen gegangen. Die Mutter und ihre Kinder waren aber noch da. Die Frau hatte die Arme um ihre
     zwei kleinen Monster gelegt und schenkte April ein mitleidiges Lächeln. April lächelte zurück, wandte sich dann jedoch ab.
     Sobald sie den Mund aufmachte, fürchtete sie, sobald sie auch nur einen Ton von sich gab, würde sie heulen bis in alle Ewigkeit.
    Ihr Großvater hockte stumm da und starrte ins Nichts. Ein Zombie. April wollte, dass er mit ihr sprach, befürchtete aber gleichzeitig,
     dass er dann lauthals irgendeinen Blödsinn vor sich hin brabbeln würde. Vielleicht würde er sogar die Kinder aufwecken. Vielleicht
     würde sich die Mutter zu einem weiteren Ratschlag genötigt fühlen. Offenbar empfanden es alle als ihre beschissene Bürgerpflicht,
     einer Jugendlichen zu erklären, was sie zu tun und zu lassen hatte. Als ob ihnen die Tatsache, dass sie ihr eigenes Leben
     versaut hatten, ihnen das Recht gegeben hätte, anderen zu empfehlen, wie sie ihres führen sollten.
    Wenn sie erst erwachsen war, würde sie bestimmt nicht versuchen, den Welthunger zu besiegen

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