Die fernen Tage der Liebe
Fastfood und den ganzen anderen Mist
in sich hineinzustopfen, den ihr Vater von seinen Schnapseinkäufen mit nach Hause geschleppt hatte. Marcy hatte Mike bitten
müssen, sie zum Lebensmittelgeschäft zu fahren. Sie hatte ihren Vater um Geld anhalten müssen. Mit erst zwölf Jahren hatte
sie sich um all die Dinge kümmern müssen, die früher ihre Mutter erledigt hatte.
Mit ihrer Mutter in Lebensmittelgeschäfte zu gehen, hatte Marcy immer genossen. Ihr Mutter war ihr beim Einkaufen vorgekommen,
als sei sie die Königin der Supermärkte, sogar die Regalbetreuer hatten sie angelächelt, sobald sie sie sahen. Und die Leute
an der Kasse waren hocherfreut, wenn sie mit ihr plaudern konnten. Marcy konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie als
ganz kleines Mädchen an der Kasse mit ihren Ärmchen die Beine ihrer Mutter umarmt hatte und sich später, als sie schon älter
war, an sie gedrückt hatte, während die Kassiererin die Preise eintippte. Seltsamerweise hatte sie sich ihrer Mutter damals
immer am nächsten gefühlt, obwohl die möglicherweise mit der Kassiererin oder jemandem aus der Nachbarschaft schwatzte und
ihr gar keine Beachtung schenkte. Dies war die andere Welt ihrer Mutter, die sich nicht zu Hause abspielte. Vielleicht verspürte
Marcy ja deshalb bis heute immer einen kleinen Stich, wenn sie Frauen mit ihren Kindern in einem Geschäft beobachtete. Es
erinnerte sie nicht ans Einkaufen mit April. Es erinnerte sie ans Einkaufen mit ihrer Mutter.
Ob sich April bei mir wohl auch je so geborgen und wohlgefühlt hat?
Marcy musterte ihre Einkäufe. Die Einkäufe für Mike. Ebenjenen Mike, der nie zugeben würde, dass sein Leben gerade den Bach runterging.
Ich hab da was am Laufen
, würde er vermutlich sagen.
Mach dir mal keine Sorgen
. Er würde nicht über das sprechen wollen, was doch nur zu offensichtlich war. Und ganz bestimmt würde er nicht über Colleen
sprechen wollen. Colleen hingegen hatte nicht das geringste Problem gehabt, über Mike zu sprechen. Nur wenige Minuten, nachdem
Marcy und Nick »hier bei Familie Warrington« – wie Colleens und Mikes Kinder sich auf deren Geheiß stets am Telefon meldeten
– geläutet hatten, legte Colleen ihnen auch schon bei einer Tasse Kaffee haarklein und in allen Einzelheiten dar, warum Mike
»hier bei Familie Warrington« nicht anzutreffen war. Marcy fiel auf, dass nicht nur die Küche, sondern das ganze Haus picobello
war. Es würde was hermachen. Im Geiste sah sie sich schon, wie sie das große, helle und luftige Empfangszimmer, die Kamine
in Küche und Wohnzimmer sowie die Arbeitsflächen aus Granit anpries.
Colleen selbst wirkte sehr beherrscht, wie immer. Make-up, aber nicht übertrieben, das glänzende schwarze Haar streng nach
hinten frisiert, Kleider, die aussahen, als habe man sie nur für sie entworfen. Aber die Ränder unter den Augen und die Sorgenfalten
auf ihrer Stirn sprachen eine weniger makellose Sprache. Das ist der Unterschied, dachte Marcy. Frauen tragen ihren Schmerz.
Männer verbuddeln ihn nur unter ihren schmutzigen Socken, ihrer dreckigen Unterwäsche und ihren Fastfood-Verpackungen. Und
ihren Flaschen.
Trotzdem musste sich Marcy, als Colleen ihnen erklärte, wo sie Mike finden konnten, einen gewissen Zorn auf ihre Schwägerin
eingestehen. Falls es bei dieser Sache um jemand anderen als ihren Bruder gegangen wäre, ihren ältesten Bruder, hätte sie
vermutlich wohl eher zu Colleen gehalten. Aber als Colleen auf Nicks Frage, ob sie Mike irgendetwas ausrichten sollten, nur
denKopf geschüttelt hatte, hätte Marcy ihr am liebsten eine verpasst.
Mag sein, dass er ein Schürzenjäger war, aber wenigstens war er für dich da
, wollte sie schreien.
Marcy besah sich die ganzen Lebensmittel im Wagen: Äpfel, Birnen, Tüten mit vorsortiertem Romana-Salat, Vollkornbrot, Magermilch,
Joghurt. Was würde Mike wohl sagen, wenn sie mit dieser vollen Ladung an gesundem Zeug hereinmarschierte?
»Ma’am?«
Die Kassiererin wartete darauf, dass Marcy endlich ihre Waren aufs Band legte. Marcy warf der Frau hinter ihr einen kurzen
Blick zu. Die schenkte ihr ein verkniffenes Lächeln, das zu sagen schien:
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.
Würde Mike ihr überhaupt dankbar sein?
Würde Mike je zugeben, was er getan hatte? Colleen gegenüber? Den Kindern gegenüber?
Und würde April je verstehen können, wie es ihr, Marcy, gerade jetzt in diesem Moment
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