Die fernen Tage der Liebe
Schwachsinn! Man soll ein ganzes Leben
leben und sich nicht wünschen, dass man irgendetwas anders machen könnte? Dann hat man ja gar nicht gelebt. Für mich war es
der Moment, als ich diesem jungen Kerl fünf Dollar zugesteckt habe. Wegen der Art, wie Clare mich ansah. Da wusste ich, dass
sie fähig war, mich zu hassen. Besser gesagt wusste ich, dass ich fähig war, dafür zu sorgen, dass sie mich hasste. In diesem
Moment damals dachte ich schon, ich hätte sie alle beide verloren. Das würde ich also ändern. Noch eher als das, was dann
viel später passiert ist, als ich Clare tatsächlich verlor.«
April hatte Sorge, dass er wieder den Faden verlor. Aber sie wagte nichts zu sagen oder eine Frage zu stellen. Offensichtlich
kam er wieder vom Thema ab. Und was sollte überhaupt dieses Gerede, dass er viel später noch mal etwas hätte ändern wollen
wegen Clare?
»Ich schrie die Leute an, wo die Erste Hilfe war. Aber wahrscheinlich waren sie einfach zu schockiert von unserem Anblick.
Ein Mann mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm, überall Blut und eine Frau und zwei Jungs, die ihnen nachrennen. Keiner konnte
mir eine Antwort geben. Also dachte ich mir, schnellstens zum Auto. Wir würden in den Wagen steigen und ins Krankenhaus fahren.
Von ganz oben auf der Achterbahn hatte ich ja schon die Stadt gesehen. Da musste es doch irgendwo ein Krankenhaus geben. Clare
schrie mir nach, ich solle stehen bleiben, aber ich bin einfach weitergerannt. Wir kamen zum Auto, die Jungs sprangen auf
die Rückbank und ich auf den Beifahrersitz, immer noch Marcy im Arm. Ich sagte Clare, sie solle fahren. Clare fing an, mit
mir zu streiten. Sie wollte sich Marcy ansehen. Sie fing an zu schreien und wollte wissen, was passiert war. Die Jungs hinten
hatten angefangen zu heulen. Einer der beiden fragte, ob Marcy tot war.«
Ihr Großvater schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. Er gab keinen Ton mehr von sich. Ein paar Minuten später hörte April
seinen tiefen, regelmäßigen Atem. Es war überflüssig, ihn jetzt zu wecken und die Geschichte zu Ende erzählen zu lassen. Das
Ende der Geschichte war, dass ihre Mutter noch eine Zeitlang ein kleines Mädchen gewesen war, dann die Highschool besucht
und Aprils Vater kennengelernt hatte und irgendwann – viel zu früh, wie sie ihre Mutter des Öfteren hatte sagen hören – April
bekommen hatte. Und jetzt dieser Trip. Dieser Trip war doch eigentlich das Ende der Geschichte.
19
Mike Warrington konnte sich einfach nicht an den Geruch des Desinfektionsmittels gewöhnen. Über die Jahre war er schon in
einer Menge Hotels abgestiegen und hatte es bisher immer geschafft, diesen Geruch einfach zu ignorieren. Hier aber nicht.
Vielleicht wurde seine Empfindlichkeit noch zusätzlich befördert von dem Gedanken, dass er es in dieser beengten Zweizimmer-Suite
womöglich länger aushalten musste als nur ein oder zwei Nächte, wie er Clare und Ty versprochen hatte. Warum hatte er sich
auch ausgerechnet ein Hotel ausgesucht, das mit der »Luxusoption für längeren Aufenthalt« warb, wenn er nicht davon ausgegangen
wäre, dass sich die Lage schon bald wieder normalisieren würde? Er fühlte sich bedrängt von den olfaktorischen Spuren des
Zimmermädchens, der unangenehme, beinahe rauchige Geruch strafte nicht nur den Werbeslogan des Hotels Lügen, »Unterwegs zu
Hause«, er schien ihn regelrecht zu verspotten.
Am stärksten war der Gestank im Schlafzimmer, vielleicht wegen des benachbarten Bades. Dabei hatte er auch so schon genügend
Schlafprobleme. Nach der ersten Nacht hatte er an der Rezeption angerufen und eine andere Suite verlangt. Die Schlafmütze
am anderen Ende der Leitung informierte Mike, dass im Augenblick nur noch eine »Executive-Studio-Suite« verfügbar sei, worunter
zu verstehen war, dass sich das Bett im selben Raum befand wie die Couch, der Vinyl-Sessel, der Fernseher, der »ein satzbereite «Schreibtisch, die Mikrowelle, die Minibar und die Kommode. Für Mikes Geschmack eindeutig zu voll. Und was, wenn er mal jemanden
aufs Zimmer mitnehmen wollte – die junge Headhunterin zum Beispiel, die er vor ein paar Tagen kennengelernt hatte. Er wusste
selbst, was für ein lächerlicher Gedanke das angesichts der gegenwärtigen Situation war. Andererseits, warum nicht? Man wusste
nie, was passierte. Und wenn tatsächlich
so
etwas passierte, wer hätte ihm denn dann einen Vorwurf machen wollen? Was konnte Colleen schon sagen?
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