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Die fernen Tage der Liebe

Die fernen Tage der Liebe

Titel: Die fernen Tage der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James King
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wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster auf der Beifahrerseite. Ein paar Minuten lang hörte man nur das Surren
     der Reifen auf der Straße, den Wind, der durch den Spalt an Aprils Scheibe hereinpfiff, und den schweren Atem ihres Großvaters.
     Sie befürchtete schon, er sei eingeschlafen.
    »Und was ist dann passiert?«, fragte April.
    »Häh?«
    »Auf der Achterbahn? Die Geschichte, die du erzählen wolltest.«
    »Natürlich erinnere ich mich«, fuhr ihr Großvater auf. »Was glaubst du denn eigentlich? Dass mein Hirn ein Schweizerkäse ist?
     Kann ich vielleicht mal hier und da Luft holen? Du bist ja genau wie deine Mutter: immer in Hektik, nur damit Hektik ist.Wozu denn die Eile? Wir haben noch gut und gerne tausend Meilen vor uns.«
    Er schwieg wieder. April vermutete, dass er jetzt nichts mehr sagte, nur um ihr eins auszuwischen. Dieses Spielchen ging ihr
     allmählich auf die Nerven. Gut, er war ein alter Mann. Na schön, sein Gedächtnis machte nicht mehr so mit. Eigentlich sogar
     weniger, als irgendeiner ahnte. Aber es gab Momente, da war er dermaßen auf Draht und so witzig, dass April sich sicher war,
     dass er alles haargenau mitbekam. Wenn er also mitten in einer Geschichte plötzlich nicht mehr weiterredete oder seinen Gedankengang
     zu verlieren schien, konnte April sich nie sicher sein, ob er sie nur an der Nase herumführte oder vielleicht sogar störrisch
     war. Das war das Wort, das ihre Mutter immer gebrauchte, wenn sie ihn beschrieb: störrisch. Es passte. Mittlerweile begriff
     April das. Er war störrisch. Und das gefiel ihr nicht. Schließlich musste sie sich in letzter Zeit hier um alles kümmern:
     Nicht nur musste sie fahren, sie musste auch für die Leute an der Rezeption oder die Kellner und Kellnerinnen Erklärungen
     oder Entschuldigungen parat haben, wenn ihr Großvater grantelte oder sich nicht mehr erinnern konnte. Aber oft war er auch
     einfach nur cool – oder charmant, wie die Älteren das wohl ausgedrückt hätten. Es war, als sei man mit einem von diesen schrägen
     Manisch-Depressiven auf Achse.
    »Komm schon, Grandpa. Was ist dann passiert?«
    Sie erwartete schon einen Wutanfall, aber es kam keiner.
    »Selbst heute kann ich es kaum ertragen, auch nur daran zu denken«, sagte er plötzlich. »Aber ich schätze, sonst gibst du
     keine Ruhe, oder?«
    »Moment, du warst doch derjenige, der mit der Geschichte angefangen hat. Man soll nichts anfangen, was man nicht auch zu Ende
     bringt.«
    Der Satz war O-Ton ihre Mutter, und April hatte den Eindruck, dass ihr Großvater möglicherweise deshalb die Augenbrauen hob
     und sie mit einem leichten Grinsen von der Seite ansah.
    »Bist du jetzt inzwischen diejenige, die hier die Lebensweisheiten verkündet?«, fragte er.
    Das zum Beispiel, dachte April. Wie konnte er einerseits sein Gedächtnis verlieren und sich anderseits noch an Sachen wie
     ihren Englischaufsatz erinnern, diesen erfundenen Aufsatz, der in vielerlei Hinsicht dafür gesorgt hatte, dass sie zwei jetzt
     hier unterwegs waren? Das passte doch nicht zusammen. Ganz bestimmt führte ihr Großvater sie an der Nase herum.
    »Wie die meisten Achterbahnen«, fuhr er fort, »fing auch die hier mit einem steilen Anstieg an. Du weißt schon, damit die
     Spannung und die Erregung steigen. Und während die Wagen hochgezogen wurden, gab es an der Seite Schilder: ›Ab hier keine
     Wendemöglichkeit mehr‹, ›Hüte festhalten‹ und dieser ganze Blödsinn. Das erste habe ich deiner Mutter laut vorgelesen. Aber
     als ich dann hinunterschaute, sah ich, dass sie Angst hatte. Ich umklammerte sie noch ein bisschen fester und sagte ihr, dass
     wir bestimmt eine Menge Spaß haben würden. Eine Riesengaudi. Aber dann sah ich wieder hoch und merkte, dass der Anstieg doch
     ganz schön steil war. Oben sah man ein Schild, auf dem stand: ›Letzte Umkehr‹. Und plötzlich sah deine Mutter, wie sie da
     neben mir kauerte, so winzig aus. Ich hielt sie noch fester und beruhigte sie, dass alles in Ordnung sei. Dann versuchte ich
     noch einen Witz.
    Aber in dem Moment sah sie zu mir hoch und sagte … ich werde das nie vergessen, wir waren gerade erst auf der Hälfte des Anstiegs,
     und da sagt sie: ›Ich glaube, das ist keine so gute Idee, Dad.‹ Und natürlich hatte sie recht, es war wahrhaftig keine guteIdee. Ich fand es jetzt selbst idiotisch, dass ich das gemacht hatte, aber gleichzeitig versuchte ich, sie und mich selbst
     davon zu überzeugen, dass schon alles gut gehen würde. Als sie

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