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Die fernen Tage der Liebe

Die fernen Tage der Liebe

Titel: Die fernen Tage der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James King
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das zu mir sagte, hörte sie sich an wie eine Erwachsene. Dabei
     hätte ich doch der Erwachsene sein sollen.
    Ich versuchte sie zu beruhigen und hielt sie noch fester. Aber während wir immer weiter den Anstieg emporgezogen wurden, rutschte
     sie immer weiter, immer weiter nach unten. Ich versuchte, sie hochzuziehen, aber es ging so steil bergan, dass ich mich kaum
     bewegen konnte.
    Und dann waren wir oben. Natürlich waren wir da höchstens eine Sekunde, vielleicht sogar noch weniger. Aber von da oben, kurz
     davor und dann auf dem Zenit, konnte man alles sehen: die anderen Fahrgeschäfte, den Picknickbereich, den Parkplatz und die
     umliegenden Farmen. Auch den Oki-Dingsbums-See. Und in geringer Entfernung eine Stadt. Ein paar Gebäude.
    Eine Sekunde war es still, dann kam es wieder: ›Ich glaube, das ist keine so gute Idee, Dad.‹ Ich glaube inzwischen nicht,
     dass deine Mutter den Satz wirklich noch einmal wiederholt hat, ich habe mir nur eingebildet, ihn noch mal zu hören. Oder
     vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass es so passiert ist. Ist ja schon ein paar Jahre her. Und dann rutschte deine Mutter
     komplett vom Sitz und in den Fußraum, unter dem Bügel. Da lag sie nun zwischen dem Sitz und dem Bug des Wagens.«
    Ihr Großvater holte sein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn.
    »Unter dem Sicherheitsbügel?«, fragte April.
    »Sie war doch nur eine halbe Portion. Und ich kam nicht an sie ran.«
    Er unterbrach sich wieder. Nur mit Mühe unterdrückte April die Frage, was dann passiert war.
    »Mein Gott, was hat sie für einen Schrei losgelassen, als wir das erste Gefälle hinunterrasten! Ich wurde in den Sitz gedrückt,
     aber selbst danach kam ich einfach nicht an sie heran. Der Sicherungsbügel war verriegelt, und die Kurven warfen mich vor
     und zurück und von einer Seite zur anderen. Über den Bügel hinweg konnte ich sie nicht erreichen. Sie rutschte zu meinen Füßen
     vor und zurück und schlug seitwärts gegen den Wagen. Sie schrie und heulte, und ich brüllte, dass man das Ding ausschalten
     solle, aber natürlich gingen meine Schreie in denen der anderen Leute einfach unter. Lieber Gott im Himmel! Die ganzen Kurven
     und ruckartigen Bewegungen schleuderten sie hin und her wie einen Pingpongball. Ich versuchte, sie mit meinen Beinen an einer
     Seite festzuklemmen, aber dafür es ging viel zu schnell hin und her. Ich fand einfach keinen Halt. Dann versuchte ich, meine
     Beine über sie zu bekommen, damit sie wenigstens nicht aus dem Wagen flog, aber bevor ich soweit war, kam schon die nächste
     Kurve oder Neigung. Mein Gott, was hat deine Mutter geschrien! Und dann hörte sie plötzlich auf zu schreien.«
    Wie kam es, dass ihre Mutter ihr diese Geschichte nie erzählt hatte? April versuchte sich an die wenigen Male zu erinnern,
     die sie in Freizeitparks gewesen waren, in Cedar Point oder Six Flags. Da war ihre Mutter zwar immer ein bisschen übervorsichtig
     gewesen und hatte ihr ständig erklärt, bloß aufzupassen, aber diese Aufforderung war auch nicht intensiver gewesen als bei
     den Millionen anderer Dinge, wegen derer sie April ständig in den Haaren lag.
    »Ist sie bewusstlos geworden?«, fragte April.
    »Sobald der Sicherheitsbügel wieder frei war, habe ich sie hochgehoben und bin losgerannt«, machte ihr Großvater weiter. Da
     wusste April, dass er ihre Frage gar nicht gehört hatte. »Sie war vollkommen leblos und blutete aus einer Platzwundean der Stirn. Es spritzte nur so, überall war Blut. Auf meinem Hemd und meiner Hose, und sie selbst war über und über besudelt.
     Die Leute schrien auf, wenn sie uns sahen.
    Clare und die Jungs waren da, wo wir uns hatten treffen wollen. Sie lachten, wahrscheinlich hatten sie auf der Achterbahn
     einen Heidenspaß gehabt. Aber dann sahen sie uns. Clare … dieser Blick … ich glaube, wenn sie eine Flinte dabeigehabt hätte,
     hätte sie mich auf der Stelle erschossen. Keine Frage. Keine Erklärung. Ich hatte ihrem kleinen Mädchen wehgetan. Das war
     das Einzige, was mir bei Clare immer Angst eingeflößt hat: wie ihr Gefühl sich plötzlich umkehren und so kalt werden konnte.
     Von einer Sekunde auf die andere war man vollkommen unbedeutend, ein Nichts. Aber ich war noch schlimmer: Ich war schlecht.
    Du kennst doch diese dämlichen Fragen, die sie einem manchmal stellen, was man anders machen würde, wenn man noch einmal geboren
     würde? Manche Leute antworten dann, sie würden alles wieder genauso machen. Was für ein

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