Die Festung
nicht
derart tapfer und stark sein, um mir sein ungeteiltes Wohlwollen zu schenken,
nachdem sein toter Sohn in seinem Herzen auferstanden war.
Vielleicht aber waren diese
vorübergehenden Schwächezustände nur auf körperliches Unwohlsein zurückzuführen.
Der Südwind begleitete uns auf der ganzen Fahrt, und das Schiff schlingerte
heftig.
Ich fragte ihn besorgt: »Ist das
Meer im Winter immer so?«
»Gewöhnlich ja.«
»Warum reist du dann jedes Jahr?«
»Ich liebe Venedig. Es ist eine
fröhliche Stadt, vor allem jetzt während des Karnevals.«
Was ging ihn der Karneval an?
»Und wenn kein Karneval ist? Dann
ist es bestimmt düster wie bei uns.«
»Bei uns ist es immer düster.«
»Liebst du Bosnien nicht?«
»Nein.«
»Warum ziehst du dann nicht nach
Venedig?«
»Vielleicht würde ich es dann auch
zu hassen beginnen. So ist es besser.«
Ich wußte nicht, ob seine
Pilgerfahrt in die fremde Stadt nur eine Gewohnheit war, Wiederholung von
etwas, was er schon lange tat, Flucht vor sich selbst und vor seiner Trauer,
oder ob es um ein Liebesverhältnis ging, das ihn, wenn auch nur vorübergehend,
von seiner ständigen Anspannung erlöšte, jedenfalls erschien mir sein
Entzücken über diese fremde Stadt ungewöhnlich, weil es übertrieben war, als
wollte er jemandem damit trotzen.
Venedig sei wie Spitze, erzählte er,
zum Anschauen erbaut, zum Genießen erschaffen, zum Verständnis bereit. Allem
Menschlichen aufgeschlossen, sei es eine Stadt reifer Menschen, die sich ihres
Tuns nicht schämten und keine Furcht hatten, die menschliche Schwächen als
gegeben und menschlichen Edelmut als willkommene Möglichkeit hinnahmen. Sie
hätten wenig Gesetze, aber strenge und gerechte, denn sie wüßten, daß es um so
mehr Gauner gab, je mehr Gesetze bestanden. Sie hätten nur wenige Regierende
und darum wenig Blutsauger. Sie bestraften, aber für wirkliche Vergehen und
ohne Willkür, ohne unnötige Grausamkeit. Alle sorgten sich um den Staat, und
alle zahlten Steuern nach ihren Möglichkeiten, und das meiste verbrauchten sie
für Schulen und für die Verschönerung der Stadt. Es gäbe Reiche, aber keine
Armen. Es gäbe Ungerechtigkeit, aber keine Gewalt. Es gäbe Gefängnisse, aber
keine Folterkammern. Die Bürger wählten ihre Verwaltung und setzten sie wieder
ab, mindestens jedes dritte Jahr. Sie einigten sich in allen Dingen, deshalb
seien sie mächtig. Ein Paradies hätten sie zwar nicht geschaffen, jedoch ihr
Leben so gut wie möglich eingerichtet.
Gibt es auch so etwas auf der Welt?
dachte ich erstaunt.
Ich spürte Šehagas Paradies mit der
Nase: den scheußlichen Gestank der Kanäle, in die erbarmungslos der Unrat
dieser merkwürdigen Stadt geleitet wurde und über deren stehendem Wasser
Nebelschwaden hingen und wie Schimmel rochen, als bliese niemals der Wind durch
diese menschliche Ansiedlung mit viel Wasser und wenig Festland.
Šehagas Paradies kam mir verdächtig
vor. Vielleicht verband er seine Wunschvorstellung von einem schönen Leben ohne
jede Begründung mit dieser Stadt, nur weil er wollte, daß es irgendwo so war.
Um daran denken zu können, wenn er unsere Armut sah, um sich trösten zu können,
wenn er unser Elend sah. Vielleicht war das ein Teil seiner Rache: seht nur,
wie sie es in Venedig verstehen! Vielleicht war es auch mehr als das, der
Glaube und Wunsch, daß es irgendwo eine Stadt, ein Land gab, wo das Leben nicht
Pein und Ungerechtigkeit war. Und wenn es das an einem Ort gab, warum nicht
auch anderswo? Diese Traumstadt war aus Wünschen erbaut. Es gab sie nicht, aber
davon wollte er nichts wissen.
Diese Reise erschien mir wie eine
Wallfahrt zu seinem edlen Traum.
»Ist es nicht schön?« fragte er,
während ich die alten Lastenträger beobachtete, die geduckt im Windschutz der
Hausmauern saßen.
Kümmerten sie sich auch um den
Staat? Oder um ein Stück Brot? Glaubten auch sie, daß dies das Paradies war?
Waren die wundervollen Paläste zu ihrem Vergnügen erbaut worden? Setzten sie
die Regierung ab? Fragte man sie nach ihrer Meinung, wenn über wichtige Staatsgeschäfte
verhandelt wurde?
Es gab Reiche, deshalb gab es auch
Armut.
Es war nicht schwer, sich eine
Traumstadt zu wünschen, schwer war es, sie sich in der Wirklichkeit
vorzustellen, und noch schwerer, den Glauben an sie aufrechtzuerhalten.
Wie hatte
Šehaga sich das Bild seiner Wünsche bewahrt?
Ich würde ihn später fragen, wenn
mir selbst klar war, wonach ich ihn fragen wollte.
Am Anlegeplatz empfing uns Osman
Vuk, der
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