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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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nicht damit abfinden, so eingemauert zu sein wie ein lebender
Schatten, den niemand sah, der aber jedermann sah. Und der vergebens sprach,
vergebens rief, von niemandem gehört wurde. Es fehlte nicht viel, und man wäre
durch mich hindurchgegangen, als wäre ich Luft, durch mich gewatet, als wäre
ich Wasser.
    Ich hatte Angst. Wie war es ihnen
gelungen, mich zu töten? Ich war nicht verwundet, nicht erschlagen worden, ich
war nicht tot, aber es gab mich nicht. Um Gottes willen, Menschen, seht ihr
mich denn nicht? fragte ich. Hört ihr mich denn nicht? Ihre Augen versperrten
sich meinem Bild, ihre Ohren meiner Stimme.
    Ich existierte nicht.
    Oder träumte ich meine unmögliche
Lage, die jeder Erfahrung widersprach? Denn ich lebte, ich ging umher, ich
wußte, was ich wollte, ich ließ nicht zu, daß es mich nicht gab. Sie hätten
mich verprügeln, einsperren, umbringen können, waren denn wenig Menschen ohne
Grund umgebracht worden? Aber warum hatten sie ein Gespenst aus mir gemacht,
warum nahmen sie mir die Möglichkeit, zu kämpfen?
    Ich will ein Mensch sein, kämpft mit
mir wie Menschen!
    Vergebens.
    Die Leere um mich wurde immer
größer, mein lächerlicher Aufruhr immer stiller.

Ein ungewöhnlicher Sommer
    Der Sommer begann heiß und drückend.
    Die Sonne schien zu schmelzen, sie
spuckte wütend Lava, Feuerfunken fielen zur Erde.
    Auch der Backofen unter uns glühte
und verwandelte unser Stübchen in eine Hölle.
    In den Mittagsstunden schien es, als
würden Himmel und Erde in Flammen aufgehen. Alles wurde zu einer riesigen
Feuerwüste.
    Nachts lagen wir auf der schmalen
Holzveranda zum Hof. Durch die graue Finsternis huschten die Schatten unserer
seltsamen Nachbarn, und im Hintergrund des Hofes, der einer Herberge glich,
trampelten die Pferde im Stall.
    Fremde Menschen kamen und
verschwanden wieder, gingen dunklen Geschäften nach, ließen Unruhe zurück.
    »Du brauchst keine Angst zu haben,
schlaf weiter«, beruhigte ich Tijana, wenn sie aufwachte.
    »Ich habe keine Angst«, flüsterte
sie, aber ihre Blicke folgten den gesichtslosen nächtlichen Schatten.
    Eines Morgens sahen wir, daß Raupen
das verdorrte Laub des Wildapfelbaums, des einzigen in unserem Hof, vertilgt
hatten. Tagsüber hüllten sie die verstümmelten Äste des Apfelbaums mit
Spinnweben ein, aber die Nachbarkinder zerstörten mit Steinen und Stangen
diesen Schmuck.
    In den umliegenden Gärten vermehrten
sich die Raupen so sehr, daß sie nicht nur die Aprikosen- und Pflaumenbäume
einspannen, sondern sogar das dürre Gras auf der hartgewordenen Erde. Es sah
aus, als stünden die Bäume zum zweitenmal in Blüte oder als wäre Schnee
gefallen. Binnen weniger Tage hatten die Spinnweben Höfe, Gassen, Fenster,
Hausflure bedeckt. Das unübersehbare Raupenheer schickte sich an, die Stadt zu
erobern.
    Die Menschen verließen ihre
Wohnungen und liefen, mit Hausrat beladen, wie vor einer Feuersbrunst, einer
Überschwemmung davon. Am ersten sauberen Ort machten sie halt, wie an einer
Zufluchtsstätte, und blickten seufzend auf die aschfarbenen Obstgärten und die
geraubten Häuser.
    Was kann dem Menschen nicht alles
widerfahren!
    Die Raupen vermehrten sich mit
unglaublicher Geschwindigkeit, als hätten sie es eilig, die ganze Welt in
Besitz zu nehmen. Vor unseren Augen bildeten die winzigen Würmer ganze Trauben,
gefräßig und unablässig nagten, kauten, vernichteten sie, umspannen mit dünnen
Fäden Baumstämme, verschlossen Häuser, bedeckten den Boden, die Menschen würden
sich auf kahle Felsen flüchten und vor Hunger und Angst sterben.
    Wir sind schon arme Teufel, wir
Menschen, machtlos gegen alles, dachte ich kleinmütig, ließ aber Tijana nichts
merken, und ein, zwei Tage später wußte ich nicht mehr, wovor ich Angst gehabt
hatte: die Raupen gingen ein, alle und fast zur gleichen Zeit, wie auf
Verabredung. Zurück blieben nur ihre Häute, von der Hitze zu Staub zermahlen,
und unser Staunen.
    Die Menschen kehrten in ihre Häuser
zurück und säuberten sie von den ekelhaften Spinnweben.
    Dann gerieten die Wälder um Sarajevo
in Brand.
    Mahmut Neretljak forderte mich auf,
mit ihm den Hügel Tiber der Stadt zu besteigen und das Naturereignis zu betrachten.
Er führte noch zwei wichtige Gründe an: Einmal wollte er sich die Beine
vertreten, denn in letzter Zeit bekam er immer häufiger Wadenkrämpfe, zum
anderen hatte er sich eine neue Arbeit ausgedacht: Er wollte den Bauern aus
Podgrab, wo es keinen Hodscha gab, Zaubersprüche für ihre Amulette

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