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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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bösen Stern geboren werden, und immer bestand eine Hoffnung
auf Besseres.
    Ich vermochte meine Nöte nicht in
Weltschmerz oder in große Gedanken umzumünzen. Anscheinend war ich wie die meisten
Menschen für kleine Dinge geschaffen, und das tat mir nicht leid.
    Ich handelte so rechtschaffen wie
möglich, wünschte keinem zuviel Schlechtes, hätte die Menschen gern geliebt,
statt sie zu bedauern, und ich betete zu meinem Geschick, daß es mich vor allem
verschonte, was mich nichts anging. Mein Gebet wurde nicht erhört.
    An jenem Tag kehrte ich zu dem
einzigen Ort auf der Welt zurück, der mir gehörte, in der Hand eine Nelke, die
ich zertreten und staubig auf der Gasse gefunden und am Brunnen abgespült und
vorsichtig geglättet hatte, um Tijana mit einer billigen Aufmerksamkeit zu
erfreuen.
    Als ich aus dem grellen Sonnenlicht
in die schattige Toreinfahrt trat, sah ich einen Fremden aus dem Haus stürzen,
in dem die Paros wohnten, und in den Stall laufen. Er führte ein Pferd heraus
und saß im Galopp auf. Ein Wächter wollte sich dem Pferd entgegenstellen, aber
er sprang eilig beiseite, und das war vernünftig, denn das Pferd hätte ihn über
den Haufen gerannt.
    Das Pferd jagte auf die Einfahrt zu,
und der Reiter, im Sattel geduckt, zog eine Pistolentasche aus dem Gürtel.
    Ich preßte mich an die Wand, dankbar
für meine magere Gestalt, die mich davor bewahrte, erdrückt zu werden. Aber
dann vergaß ich das Dröhnen der Hufe und die Pistolentasche in der Hand des
Reiters, denn im Hof knallten Gewehrschüsse, die dem Flüchtling galten, und
mich packte die Angst, daß allein ich dieser Abrechnung zum Opfer fallen würde,
mit der ich nichts zu tun hatte. Die Kugeln sausten an meiner Nase vorüber wie
wütende unsichtbare Hummeln, und sie trafen weder mich noch den Reiter. Noch
nie hatte ich mich über jemandes Ungeschicklichkeit so aufrichtig gefreut wie
in diesem Augenblick, nicht für den Reiter, sondern für mich.
    Die Wächter rannten zum Ausgang, um
das Versäumte wettzumachen, aber der Serdar Avdaga rief sie zurück. Die beiden
Paros sollten ihnen nicht auch noch entwischen.
    Ich sah, daß dem fremden Reiter die
Flucht geglückt war, ich sah die Wächter umkehren, um die Mörder zu holen, und
ich wußte, daß alles vorüber war. Dennoch löste ich mich nicht von der rauhen
Wand.
    Diese Starre und
Selbstvergessenheit, diese Angst, die mir das Blut aus dem Herzen trieb, waren
beschämend, aber darüber dachte ich erst später nach. Wer hat schon Lust
umzukommen?
    Ich riß mich von der Mauer los, die
mich nach einer Seite schützte, von der keine Gefahr drohte, und betrat den
Hof.
    Die Paros standen noch auf der
Treppe, und die Wächter gingen auf sie zu, um sie abzuführen, als könnten sie selbst
nicht gehen. Warum waren sie nicht fortgelaufen?
    Der Unbekannte war entkommen. Das
Glück war ihm nicht hold gewesen, er war in Ereignisse hineingeraten, mit denen
er nichts zu tun hatte und die ihm trotzdem den Kopf zu kosten drohten
(irgendeine Schuld trug er sicher), er aber hatte dem Schicksal ein Schnippchen
geschlagen und die Kette der Zufälle zerrissen, die ihn fesselte.
    Daran würde ich mich wieder
erinnern, wenn ich mehr Zeit hatte.
    Avdaga stand nachdenklich mitten im
Hof.
    »Du wolltest nicht lügen«, sagte er,
als ich näher kam. »Aber wieviel Unglück hättest du verhüten können!« Wollte er
alle Schuld auf mich abwälzen?
    Seine Stimme war heiser, eher
traurig als vorwurfsvoll. Er schien recht zu haben. Nie hätte ich geahnt, daß
auch eine Lüge Böses verhindern kann.
    Aber wenn das Böse nicht geschehen
wäre? Dann wäre mir die Scham wegen der Lüge geblieben und die Reue, weil ich
Unschuldigen Böses zugefügt hatte.
    Der Serdar Avdaga hegte ständig den
Verdacht, daß ein Verbrechen vorbereitet wurde, und oft hatte er recht. Ich
hegte nie einen solchen Verdacht, und auch ich hatte recht. Was geschah, war
ohnehin nicht aufzuhalten. Säßen alle Menschen im Gefängnis, so gäbe es kein
Verbrechen, aber auch kein Leben. Ich haßte das Verbrechen, aber das Leben mit
Verbrechen war mir lieber als ein riesiger Friedhof.
    Wie sollte ich ihm das sagen, war es
doch mir selbst nicht ganz klar. Und er, betroffen vom Tod seines Bruders, der
seine schlechte Meinung von den Menschen bekräftigte, konnte kein anderes Motiv
erblicken als Haß.
    Ich sagte mit aufrichtigem Bedauern:
»Es tut mir leid, Avdaga. Wirklich.«
    Avdaga folgte wortlos den Wächtern,
die die Paros abführten.
    In diesem Augenblick

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