Die fetten Jahre
Arunachal Pradesh, die China nicht als Teil Indiens anerkannte, konkurrierenden Ansprüchen Chinas, Singapurs, Malaysias, der Philippinen und Bruneis im Südchinesischen Meer sowie Chinas und Japans im Ostchinesischen Meer. Selbst mit dem kleinen Himalayastaat Bhutan stritt China sich wegen des Grenzverlaufs. Außerdem stand es zunehmend in der Kritik für seine gigantischen Staudammprojekte und Flussumleitungen in Tibet und Yunnan. Sie waren Auslöser für einen grenzüberschreitenden Streit um Wasserressourcen, denn abgesehen vom Ganges entsprangen die wichtigsten Ströme Südostasiens allesamt auf der chinesischen Seite des Himalaya.
Allerdings war es eher unwahrscheinlich, dass sich diese Streitigkeiten oder gar bewaffneten Konflikte zu echten zwischenstaatlichen Kriegen auswuchsen.
He Dongsheng wusste, dass viele seiner pro-militärischen Genossen diese Argumentation nicht hören wollten, weil sie Streichungen im Rüstungsetat fürchteten. Dennoch war er nicht so naiv zu glauben, dass der Aufstieg einer großen Nation ohne militärische Rückendeckung vonstatten gehen konnte. Er war Realist. Ihm ging es darum, das nationale Wohl nachhaltig zu verbessern, ohne auf Waffengewalt zurückgreifen zu müssen. Dazu bedurfte es einer breit angelegten Strategie.
Er war der Meinung, dass ein Land, das zu bescheiden auftrat, Misstrauen erregte. Früher war China nicht müde geworden zu betonen, dass es keinesfalls nach Hegemonie strebe, hatte einen friedlichen Aufstieg in einer harmonischen Welt proklamiert. Geglaubt hatte das sowieso niemand. Jetzt, wo die Welt China ohnehin misstrauisch beäugte, konnte man auch ruhig seine nationalen Interessen und seine Strategie klar und deutlich darlegen, sodass die anderen sich überlegen konnten, wo sie China lieber aus dem Weg gehen sollten.
Wie James Monroe verkündete also nun auch China, es werde nicht um globale Vorherrschaft kämpfen. Die westlichen Mächte – womit in erster Linie die USA gemeint waren – mochten sich aber bitte aus Ostasien zurückziehen. Mit Ostasien waren hier die Teile Ost- und Südasiens gemeint, die China gegenüber ehemals tributpflichtig gewesen waren.
Zu jener Zeit, als die Nomadenvölker der nördlichen und westlichen Steppe unentwegt mit den sich um den Mittelmeerraum herum entwickelnden Zivilisationen aneinandergerieten und sich mit ihnen vermischten, isolierte sich China, umschlossen von hohen Bergen und großen Wüsten, in relativer Abgeschiedenheit auf seinem Kerngebiet. Die Chinesen sahen ihr Land als Tianxia – »alles unter dem Himmel« – und entwickelten eine starke kulturelle Kontinuität. Vielleicht lag es an den geographischen Gegebenheiten, dass das antike Chinesische Kaiserreich nach außen weit weniger aggressiv und expansiv war als viele andere mächtige Militärverbünde in der Geschichte, sei es nun das Römische Imperium, Napoleon oder die seefahrenden Kolonialmächte. Oder wie die USA, die nach wie vor über achthundert Militärbasen auf der ganzen Welt unterhielten.
China wolle die undankbare Aufgabe nicht, Weltpolizei zu spielen, betonte He Dongsheng. Nach seinem Verständnis war das Chinesische Jahrhundert für die Chinesen nicht zum Vergnügen da, sondern es war an die Verantwortung Chinas geknüpft, endlich wieder die historische Position einzunehmen, die es bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts innegehabt hatte. Über sein eigenes Territorium »unter dem Himmel« zu herrschen, reichte China völlig aus, es trachtete nicht danach, die ganze Welt zu regieren – solange die anderen Nationen nicht versuchten, den Aufstieg und die Integration Ostasiens aufzuhalten. Wenn sich die USA nur von dort zurückzog und die drei Mächte China, USA und Europa ihre jeweiligen Einflusssphären nicht verletzten, war es für alle drei Seiten ein gutes Arrangement. Politische Einflusssphären konnten das Streben nach globaler Hegemonie ersetzen und in einer Zeit, in der der Aufstieg Chinas ohnehin nicht mehr zu stoppen war, den Weltfrieden sichern.
Was die Wirtschaft anging, hatten sich mit der EU, Nafta und dem Asiatisch-Pazifischen Raum schon seit einiger Zeit regionale Gravitationszentren herausgebildet, die trotz der wirtschaftlichen Globalisierung den Großteil ihres Handels untereinander abwickelten. Es brauchte jetzt bloß noch das politische Äquivalent dazu.
Nach einer Regionalisierung der Politik konnten Europa, Amerika und China getrost weiterhin auf dem Territorium und im Einflussbereich der jeweils anderen
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