Die fetten Jahre
denselben Weg gehen wie damals die Sowjetunion im Kalten Krieg und mit den USA um weltweite Vorherrschaft konkurrieren, ein Wettrüsten veranstalten und durch die Gefahr der gegenseitigen Vernichtung ein Gleichgewicht des Schreckens etablieren. Nein, das war nicht der Weg des Himmlischen Friedens, das war nicht im nationalen Interesse langfristiger politischer Stabilität. Ein rational denkender, kein Blatt vor den Mund nehmender chinesischer Idealist wie He Dongsheng wusste genau, dass dieser Weg ungangbar war, dass China eine solche Belastung nicht verkraften würde. Um die USA von einem Fernkrieg abzuhalten, setzte China seine Möglichkeiten zum präemptiven und asymmetrischen Fernangriff ein. Wollte es einer Invasion vorbeugen und seine nationalen Interessen wahren, musste China zum großen Bruder in der Region werden und nicht zum globalen Hegemon. Man konnte es als die chinesische Monroe-Doktrin bezeichnen. Wie James Monroe, Präsident der USA in den 1920er Jahren, verkündete auch China, es werde nicht um globale Vorherrschaft kämpfen, solange seine eigenen Grenzen respektiert würden: So wie Amerika den Amerikanern, sollte Ostasien ganz den Ostasiaten gehören.
Die amerikanischen Atomraketen konnten China aus der Distanz vernichten, also musste China den USA verdeutlichen, dass man es nicht zu einem Erstschlag der Amerikaner kommen lassen würde, sondern die Chinesen im Ernstfall zuerst angreifen würden. Mit anderen Worten: Amerika sollte sich jegliche Drohgebärden sparen, um keinen atomaren Angriff Chinas zu provozieren. Das war der präemptive Teil der Strategie.
Die chinesische Fähigkeit zum Fernangriff beschränkte sich zwar nur auf einige Großstädte an der amerikanischen Westküste, aber mehr brauchte es auch gar nicht; auch so wäre es für die USA mit inakzeptablen Verlusten verbunden. Selbst wenn sie China mit ihrem Gegenschlag hundert Mal soviel Schaden zufügen konnten, für die amerikanische Bevölkerung wäre dieser Preis dennoch zu hoch. Mit diesen zwei Ansagen, Präemptive und asymmetrischer Fernangriff, schreckte man die USA davon ab, sich auf einen Atomkrieg mit China einzulassen.
Das war auch eine Art asymmetrisches »Gemeinsam leben oder zusammen sterben«. In einem Atomkrieg war jeder Sieg ein Pyrrhussieg. Die chinesische Strategie wurde den Amerikanern klipp und klar mitgeteilt, damit dort erst gar keine Missverständnisse aufkamen. Gleichzeitig versuchte China, die USA davon abzubringen, einen Raketenschild über dem Ostpazifik zu errichten, denn dies würde auf ein atomares Wettrüsten hinauslaufen und China zwingen, Waffen zu entwickeln, die in der Lage waren, diesen Schutzschild zu durchbrechen.
He Dongsheng glaubte nicht, dass es zu einem Atomkrieg mit den USA kommen würde, und seiner Meinung nach war die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen konventionellen Krieg auf chinesischem Boden vom Zaun brechen könnten, gleich null, auch wenn sie weiterhin Truppen in Asien stationiert hatten.
Von jeher war die größte Furcht der Chinesen die vor einer Invasion durch »ausländische Stämme«, wie Dongsheng es nannte, vor der Zerstückelung des Landes und der Fremdherrschaft durch andere Völker. Doch all diese Sorgen waren nunmehr überflüssig. In seiner fünftausendjährigen Geschichte war China noch nie so sicher gewesen. Wer würde es heute noch wagen, eine Invasionsarmee ins Reich der Mitte zu schicken?
Nach Gründung der Volksrepublik hatte China – abgesehen von den Konflikten in der Taiwanstraße, in Tibet und Xinjiang – nach außen hin lediglich kürzere bewaffnete Grenzkonflikte mit Indien, der Sowjetunion und Vietnam ausgefochten. Der einzige Waffengang, der tatsächlich die nationale Sicherheit bedroht hatte, war die Unterstützung Nordkoreas im Koreakrieg gegen die Amerikaner vor mittlerweile mehr als sechzig Jahren gewesen. China ist auf dem Festland von vierzehn Nachbarstaaten umgeben und hat Seegrenzen zu sechs verschiedenen Ländern. Seit 1949 hatte man insgesamt vierzehn Grenzstreitigkeiten durch Verhandlungen gelöst und zwei Auseinandersetzungen um abgelegene Inseln friedlich beigelegt. Aber es gab weiterhin Grenzkonflikte, die kurzfristig nicht lösbar waren. Die Reibungspunkte reichten von der achtunddreißigtausend Quadratkilometer großen Aksai-Chin-Region in Xinjiang, die von Indien beansprucht wurde, über die vierundachtzigtausend Quadratkilometer des südlich der McMahon-Linie gelegenen südtibetischen Tawang-Distrikts im indischen Bundesstaat
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