Die fetten Jahre
nicht denselben Familiennamen? …«
»Mein Vater hatte zwei jüngere Brüder. Als Zeichen ihrer revolutionären Gesinnung änderten beide ihren Familiennamen. Sonst würde Dongsheng auch Jian heißen.«
Davon hatte ich gehört. Innerhalb alter Revolutionärsfamilien der zweiten Generation war es nicht ungewöhnlich, dass selbst leibliche Brüder unterschiedliche Familiennamen trugen.
»Was ist mit der Familie deines anderen Onkels?«, fragte ich.
»Wir haben keinen Kontakt«, antwortete Jian Lin kurz angebunden.
Mein Taktgefühl reichte aus, um nicht weiter nachzufragen. »Dass du und He Dongsheng verwandt seid, ist wirklich eine Überraschung. Wie ›wichtig‹ ist er denn inzwischen?«
»Was heißt hier ›wichtig‹? Er ist Mitglied im Politbüro! Da kommen normalerweise nur altgediente Funktionäre rein, das schafft nicht jeder!«
»Einer von den Staatslenkern?«
»Genauer gesagt müsste es heißen: Lenker von Partei und Staat. Ab Ebene des Sekretariats gehört man schon zu dieser Kategorie, ganz zu schweigen vom Politbüro. Aber Dongsheng ist eine Ausnahme, er ist zwar im Büro, hat aber keinen Posten im Sekretariat. Trotzdem: man kann ihn wohl zu den Staatslenkern zählen.«
»Oho! Dann habe ich jetzt schon zwei wichtigen Staatsmännern die Hand geschüttelt, einmal deinem Cousin und davor schon mal Dong Jianhua, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der Politischen Konsultativkonferenz!«
Normalerweise hatten Staatslenker allesamt volles, pechschwarzes Haar, das zur immergleichen Betonfrisur gekämmt war. Üblicherweise trugen sie zudem eine gesunde Röte im Gesicht und wirkten energiegeladen und voller Tatendrang. Ich hätte niemals gedacht, dass ich einmal ein so spärlich behaartes, aschfahles und schlafloses Exemplar eines Staatsmannes kennenlernen würde.
Durchwachte Frühlingsnacht
In der lauen Frühlingsnacht wartete ich auf mein Taxi. Die weinselige Schläfrigkeit, die ich nach dem Film verspürt hatte, war mit einem Mal wie weggeblasen. Ich wählte die Nummer einer Bekannten und ließ mich zu ihr nach Hause fahren. Wir hatten uns vor über zehn Jahren kennengelernt, als sie noch im Heaven & Earth Nightclub arbeitete. Auch ein ausgeglichener Mann wie ich hatte manchmal seine Bedürfnisse und dann rief ich sie an. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich sie schon ganze zwei Jahre nicht mehr besucht; nicht mal an sie gedacht hatte ich. Bis heute.
Als ich im Morgengrauen schließlich nach Hause kam, konnte ich immer noch nicht schlafen. Was für eine rastlose Frühlingsnacht. Ich lag im Bett und grübelte über die eine Frage, die mich seit Tagen beschäftigte: Sollte ich Xiaoxi eine E-Mail schreiben oder nicht? Laut Madame Song wechselte sie häufig ihre Adresse. Wenn ich ihr nicht schrieb, würde ich sie vielleicht nicht mehr erreichen, falls ich es mir später doch anders überlegte. Aber wenn ich ihr schrieb, war es gut möglich, dass es mich in Schwierigkeiten bringen würde.
Xiaoxi hatte immer eine besondere Anziehung auf mich ausgeübt. Wir kannten uns seit zwanzig Jahren, und in all den Jahren war nie etwas zwischen uns passiert, nicht einmal geflirtet hatten wir. Doch schon damals, als sie noch in ihrem Restaurant arbeitete, hatte sie mir den Kopf verdreht. Einer Menge ihrer Gäste ging es ähnlich. Sie war ständig von Männern umgeben: Busenfreunde und Verehrer – und ehemalige Verehrer, die mangels Erfolg ebenfalls zu Busenfreunden geworden waren. Sie war eine dieser Frauen, die am besten mit Männern auskommen und kaum Freundinnen haben. Gleichzeitig war sie sich jedoch ihrer besonderen Anziehungskraft auf das andere Geschlecht nicht bewusst, sondern sah in ihren männlichen Freunden tatsächlich nur das: Freunde. Ich hatte ihr nie entschlossen Avancen gemacht und von ihr kam ebenfalls nie ein Signal. Sie hatte mich immer nur wie einen Freund behandelt. Später hieß es, sie wolle einen Ausländer heiraten und mit ihm nach England gehen. Daraus war offensichtlich nichts geworden. Umso mehr fragte ich mich nun, warum wir dann sieben oder acht Jahre lang keinen Kontakt mehr gehabt hatten.
Ein weiterer Grund, der mich damals schon hatte zögern lassen, war ihre Tendenz, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Sie gehörte nicht zum Typus der intellektuellen Dissidentin, doch in den vergangenen dreißig Jahren war sie immer wieder angeeckt. Sie war einfach zu aufrichtig, zu stur und hatte ein zu starkes Unrechtsbewusstsein, um sich schweigend anzupassen. Früher war stets jemand
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