Die fetten Jahre
idealistisch und hielt der Realität zwangsläufig nicht stand. Vom ersten Tag an gab es Probleme.
Normalerweise lief es so, dass das Amt für Öffentliche Sicherheit, also die Polizei, jemanden festnahm, bevor die Staatsanwaltschaft Anklage erhob, und das Gericht schließlich ein Urteil fällte. Um das Ganze zu beschleunigen, wurden unter der neuen Direktive jeweils zwei Vertreter der Staatsanwaltschaft und des Gerichtes direkt ins Polizeipräsidium entsandt, wo man zusammen mit zwei Polizisten im Anschluss an die Verhaftung in einem Zug Beweisaufnahme, Anklage und Verurteilung abhandelte. Damals hatte niemand eine Ahnung, was eigentlich Aufgabe der Staatsanwaltschaft war, und das Gericht hatte lediglich zwei einfache Protokollanten entsandt, einen pensionierten Soldaten, politisch verhärtet, ohne jegliche juristische Ausbildung, und mich, gerade frisch von der Universität und noch dazu eine Frau. Es waren der örtliche Polizeichef und sein Stellvertreter, die den Ton angaben.
Bereits am ersten Tag war ich kurz vor dem Zusammenbruch. Alle Angeklagten bekamen die Todesstrafe, unabhängig von der Schwere ihres Vergehens; nicht einer von ihnen hatte einen Mord verübt. Raub, Diebstahl, Betrug – alles wurde mit dem Tod bestraft. Die Verurteilten mochten noch so verzweifelt protestieren oder gar Beweise für ihre Unschuld vorbringen, niemand scherte sich darum.
Der Fall eines jungen Mannes kam an die Reihe, der wegen Körperverletzung und Vandalismus angeklagt war. Er hatte mit einem Mädchen aus einer Nachbarsfamilie geschlafen; die Familie des Mädchens stellte ihn zur Rede, es kam es zu einer Schlägerei und der Junge wurde verhaftet. Seine Familie wusste, dass die Partei gerade ein härteres Durchgreifen der Justizbehörden angeordnet hatte und bekniete die Familie des Mädchens – im wahrsten Sinne des Wortes –, die Anzeige zurückzuziehen. Vergeblich. Also wurde der Fall unserem sechsköpfigen Justizgremium vorgelegt.
»Was gibt es für Körperverletzung?«, begann der Polizeipräfekt die Verhandlung.
»Ein Todesurteil ist nicht gerechtfertigt«, warf ich hastig ein.
Die anderen fünf Mitglieder des Gremiums sahen mich an, in ihren Blicken ein unausgesprochener Vorwurf. Doch aufgrund meines Einwands wurde der Angeklagte am Ende für unbestimmte Zeit in ein Umerziehungslager in Xinjiang geschickt und nicht hingerichtet. Als alle Verhandlungen des Tages abgeschlossen waren, holte der Vize-Polizeichef einen Bericht hervor.
»Schaut euch das an! Woanders erschießen sie jedes Mal zig Verbrecher auf einen Schlag! Hier, nehmen wir mal Henan: Zhengzhou, Kaifeng, Luoyang – vierzig bis fünfzig pro Hinrichtung. Selbst in einem Kaff wie Jiaozuo kommen sie noch auf dreißig und mehr! Und wir? Wir sind nicht mal im zweistelligen Bereich! Wie soll das denn weitergehen, frage ich euch?« Offensichtlich standen alle unter großem Druck.
Der andere Protokollant, den man zusammen mit mir hergeschickt hatte, meldete sich zu Wort. Bei dem Fall mit der Körperverletzung hätte man härter urteilen müssen, schließlich habe der Kerl böswillig andere Menschen verletzt. Ein so mildes Urteil sei nicht im Sinne der Direktive.
»Dann wandeln wir es eben in Todesstrafe um«, schlug der Polizeipräfekt vor. »Besser spät als gar nicht.« Die anderen stimmten zu. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um zu widersprechen, da fiel mir der Präfekt ins Wort: »Frau Genossin, Sie haben lange genug hier rumgezimpert!« Seine Zurechtweisung verschlug mir die Sprache. Was war ich doch für ein Schwächling!
Am Ende jener Woche wurden zehn Todesurteile vollstreckt. Ich bereute meine Schwäche und hasste mich für meine Nachgiebigkeit. Was nutzten hier denn schon Gesetze? Wollte das etwa ein Rechtsstaat sein? Als ich an jenem Tag den Hinrichtungsplatz verließ, war ich bereits unumkehrbar auf Kollisionskurs mit dem Schicksal. Bei meinem zweiten Einsatz wurden mein Kollege und ich direkt zur örtlichen Streifenpolizei beordert, wo wir vor Ort parallel zu den Verhaftungen mit der Dokumentation der verschiedenen Fälle begannen, um sie anschließend in der für den jeweiligen Kreis zuständigen Polizeizentrale in einem Rutsch abzuhandeln. Ich hatte den festen Entschluss gefasst, meinen Einspruch zu Protokoll zu geben, sobald ein Angeklagter die Todesstrafe nicht verdiente. In den Akten wurde vermerkt, dass einer der beiden Gerichtsvertreter gegen die Todesstrafe gestimmt hatte, und damit war sie von den anderen kaum noch
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