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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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hingeschmissen habe. Eine so dumme Mutter passe nicht zu ihm, sagt er.
    Wahrscheinlich wäre ich heute immer noch Teil des totalitären Systems aus Polizei und Justizbehörden, wenn es die landesweite Anti-Kriminalitätskampagne von 1983 nicht gegeben hätte. Durch sie wurde mir überdeutlich bewusst, dass ich nicht für diesen Beruf geschaffen war. Ich sträube mich grundsätzlich dagegen, mich in ein solches System einzufügen. Mein Jurastudium war lediglich ein Versuch, die Zuneigung meines Vaters zu gewinnen.
    Er zählte zur ersten Generation von Richtern des Neuen China und hatte in den fünfziger Jahren die Verfassung der Volksre-publik mit ausgearbeitet. Ich erinnere mich, dass meine Mutter uns Kinder dazu ermahnte, artig zu sein und keinen Lärm zu machen, wenn Vater von der Arbeit nach Hause kam. Wir hatten alle Angst vor ihm. Er hat mich nie in den Arm genommen. Doch am meisten fürchtete meine Mutter sich vor ihm, in meiner Erinnerung war in seiner Gegenwart nie ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Nach seinem Tod war sie wie ausgewechselt. Sie blühte wieder auf, selbst ihre Stimme klang mit einem Mal anders, kräftiger. Sie spricht fast nie von meinem Vater, aber sie muss sehr unter ihm gelitten haben.
    Während der Kulturrevolution wurde auch er an den Pranger gestellt, ins Gefängnis geworfen und erst wieder frei gelassen, als er bereits schwer krank war. Ich machte 1979 meinen Abschluss an der 101, der ältesten und renommiertesten Eliteschule Pekings. Im selben Jahr nahmen die Universitäten die Zulassungsprüfungen wieder auf und ich entschied mich – dem Willen meines Vaters folgend – für ein Jurastudium an der Pekinger Hochschule für Politik- und Rechtswissenschaften, die auch damals schon eine der besten war. Mein innigster Wunsch war es, ebenfalls als Richterin der Republik zu dienen. Ich glaubte, ich hätte ebenso das Zeug dazu wie mein Vater.
    Ich weiß noch, wie meine Mutter versuchte, mich davon abzubringen. Als wir einmal alleine waren, sagte sie mir, dass Jura nicht zu mir passe, und dass ich besser Naturwissenschaften studieren solle. Ein Jurastudium würde mich bloß in Schwierigkeiten bringen. Ich schenkte ihrem Rat keine Beachtung, stattdessen nahm ich ihr die Einmischung übel. Meinen Vater stolz zu machen, war mir das Wichtigste, die Einwände meiner Mutter waren für mich bloß die Bedenken einer kleingeistigen Hausfrau. Sind wir Menschen nicht merkwürdig? Wir kämpfen um die Anerkennung von denjenigen, die nichts von uns wissen wollen, und kümmern uns nicht um die, die es gut mit uns meinen. Wie blind und kaltherzig wir doch sein können!
    Zusammen mit meinem Vater verfolgte ich 1980 im Fernsehen den Prozess gegen die Viererbande um Maos Witwe Jiang Qing, die man für das Chaos der Kulturrevolution verantwortlich machte. Die Kulturrevolution hatte den Jähzorn meines Vaters noch verschlimmert, seine ständigen Wutausbrüche und üblen Be­schimpfungen waren kaum zu ertragen. Auch das Alter hatte ihn nicht milder gemacht. Er starb als verbitterter, hasserfüllter Mann.
    Während meiner Zeit an der Uni wurden die »Rechtsabweichler« rehabilitiert, die Willkürurteile aus der Zeit der Kulturrevolution aufgehoben, und selbst die Viererbande bekam bei ihrem Prozess vom Staat einen Verteidiger gestellt. Ich glaubte an eine bessere Zukunft, hatte festes Vertrauen in die Gesetze und den Willen der Partei, einen Rechtsstaat aufzubauen.
    1983 beendete ich mein Studium und wurde als Protokollantin an ein Kreisgericht in der Nähe von Peking geschickt. Dort be­gann mein Albtraum.
    Ich war gerade zweiundzwanzig geworden und erreichte die mir zugeteilte Arbeitsstelle Ende August. Meine neuen Kollegen hatten soeben den »Beschluss über hartes Vorgehen gegen kriminelle Aktivitäten« erhalten und studiert. Man erläuterte mir den Tenor des Dokuments, dann ging es an die Arbeit. Ich habe von jeher einen starken Gerechtigkeitssinn und verabscheue nichts mehr, als wenn die Bösen ungeschoren davonkommen, während den Guten Unrecht widerfährt. So war ich überzeugt, die Direktive von Partei und Regierung, schwere Vergehen vorrangig, schnell und nach den Regeln des Gesetzes abzuhandeln, sei absolut richtig. Ich wollte hart urteilen und keine Schwäche zeigen. Ich ahnte noch nicht, wie weit meine Vorstellung von vorrangig, schnell und nach dem Gesetz von der Realität entfernt war. Mag sein, dass ich zu ungeduldig war. Vielleicht war auch mein Begriff von Rechtsstaatlichkeit einfach zu

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