Die fetten Jahre
wolle. Angesichts der zu erwartenden Zollgebühren lehnte ich dankend ab. Eine Flasche Weißer, eine Flasche Roter, das musste reichen.
Dann schrieb ich Jian Lin eine SMS: »Wie steht es mit der Sonntagsvorführung? Ich bringe zwei Freunde mit: Bâtard Montrachet 1989 und Romanée-Conti 1999.«
Am Sonntag rückte ich mit den beiden Weinflaschen an und blieb wie vermutet Jian Lins einziger Gast an diesem Abend. Er besah sich die Etiketten sehr genau, unablässig Worte des Lobes murmelnd. Am besten gleich öffnen und etwas ziehen lassen, schlug er vor.
Während er den Wein behutsam in kristallene Karaffen füllte, fragte ich ihn, welchen Film es heute gab. Vergiss niemals aus dem Jahr 1964, antwortete er und wollte wissen, ob ich diesen Film schon gesehen hatte.
»Wohl kaum. Dafür hätten sie uns unter Chiang Kai-shek direkt an die Wand gestellt.«
Jian Lin erklärte, dass 1964 ein gutes Jahr gewesen sei: Die drei Katastrophenjahre waren vorüber, die Menschen hatten wieder etwas zu essen und die Kulturrevolution hatte noch nicht begonnen. 1959 war Mao vom Amt des Staatspräsidenten zurückgetreten. Um seinen Einfluss aufrechtzuerhalten, hatte er jedoch die Parole ausgegeben, »den Klassenkampf niemals zu vergessen«. Ganz im Geiste dieses Aufrufs erinnerte der Film die Menschen daran, dass es unter ihnen noch immer verdeckte Klassenfeinde gab, die es zu entlarven galt. Ein Vorgeschmack auf die Kampagne der Vier Reinigungen in Politik, Wirtschaft, Organisation und Ideologie, die später folgen sollte, und letztlich auch ein Vorgeschmack auf die Kulturrevolution.
Beim Abendessen kündigte Jian Lin an, dass sein Cousin gleich kommen würde, um mit uns den Film anzusehen und meinen hervorragenden Wein zu probieren.
Ich konnte mich nicht entsinnen, seinem Cousin schon einmal begegnet zu sein, und war nicht sehr erfreut bei dem Gedanken, dass noch jemand kam und uns meinen Wein wegtrank.
In diesem Moment betrat ein blässlicher Mann mit schütterem Haar den Raum und warf Jian Lin einen familiären Gruß zu.
»Das ist mein jüngerer Cousin Dongsheng – Herr Chen, ein alter Freund aus Taiwan«, stellte Jian Lin uns einander vor.
»Wir sind uns bereits begegnet«, sagte ich, während wir uns die Hände schüttelten. »Im Xinghua-Camp ’92 in Macao. He Dongsheng, nicht wahr? Sie waren damals Hochschuldozent, soweit ich mich erinnere.«
»Richtig, ja«, erwiderte He Dongsheng matt.
Jian Lin war dafür umso mehr erstaunt: »Ihr beiden kennt euch?«
He Dongsheng antwortete mit demselben kraftlosen »Richtig, ja«.
Es folgte eine peinliche Stille. Ich sagte nur: »Ist schon zwanzig Jahre her.«
Damals, in jenem Camp für junge Intellektuelle, war Dong-sheng nur ein Nachwuchsakademiker gewesen und kaum sonderlich aufgefallen. Inzwischen war er ein hohes Tier in der Kommunistischen Partei.
Jian Lin schenkte He Dongsheng ein und ließ ihn kosten: »Ein feiner Tropfen, nicht wahr?«
He Dongsheng murmelte zustimmend.
»Den hat Herr Chen extra aus Taiwan eingeflogen.«
Freundlich, aber kraftlos, hob He Dongsheng sein Glas ein wenig an, um mir zuzuprosten, was ich erwiderte.
Während des Films sprachen wir kaum. Ich blickte ein paar Mal zu He Dongsheng hinüber, der scheinbar eingeschlafen war, während Jian Lin intensiv das Geschehen auf der Leinwand verfolgte. Er mag diese alten Propagandafilme wirklich, dachte ich bei mir.
Die Handlung von Vergiss niemals spielte in einer Fabrik für Haushaltsgeräte, irgendwo in den alten Industriezentren an der Nordostküste. Die Arbeiter waren alle hoch motiviert und produzierten fleißig, bis einer von ihnen eine Frau aus dem wohlhabenden Mittelstand heiratete. Erst überredete sie ihn, sich eine Jacke aus teurem Stoff zu kaufen, für ganze 148 Yuan, dann brachte seine Schwiegermutter den jungen Arbeiter dazu, in seiner freien Zeit Wildenten zu jagen und die Beute auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Nach mehreren Verwicklungen führte dies schließlich zu einer Krise in der Fabrik und schadete durch den Produktionsausfall dem gesamten Vaterland – nur weil die revolutionäre Wachsamkeit verloren gegangen und der Klassenkampf in Vergessenheit geraten war. Der Film endete mit den in blutroter Farbe auf die Leinwand geworfenen Worten: »Vergiss niemals!«
»Nicht schlecht«, sagte ich. »Sehr interessant. Wenn die jungen Leute heutzutage so etwas sehen, werden sie es allerdings kaum noch verstehen können, ohne dass es ihnen jemand erklärt.«
Da meldete sich auf einmal He
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