Die fetten Jahre
Dongsheng zu Wort: »Die acht Stunden auf der Arbeit sind nicht das Problem. Aber was die Leute in der übrigen Zeit treiben, ist schwer in den Griff zu bekommen. Mao hatte darauf keine Antwort.«
Ich war überrascht, dass er so salopp über den Großen Vorsitzenden sprach.
»Nach Beginn der Öffnungspolitik gab es in Tianjin eine Zeitschrift, die Nach der Arbeit hieß, wussten Sie das?«, fuhr He Dong-sheng fort. »Acht Stunden am Tag gehören der Arbeit, aber damals wusste niemand, was er in der ganzen übrigen Zeit mit sich anfangen sollte. Der Sozialismus hatte die acht Arbeitsstunden geregelt, aber für die restliche Zeit hatte er kein Rezept …«
»Soll sich doch der Kapitalismus um die Freizeit kümmern!«, warf Jian Lin ein.
Vielleicht lag es am Alkohol, auf jeden Fall entgegnete He Dongsheng spürbar erregt: »Ach was! Der alte Mao hat wirklich gedacht, er könnte die Leute vierundzwanzig Stunden am Tag mit Revolution und Produktionssteigerung beschäftigen! Man muss die Leute auch mal nach Hause lassen, ihnen was Vernünftiges zu beißen geben und ihnen erlauben, sich ein paar schicke Klamotten zu kaufen! Gönn’ ihnen doch ruhig das bisschen Bourgeoisie! Wenn das Volk das will, dann kannst du es ihm nicht einfach vorenthalten. Wer ist denn sonst noch bereit, für dich zu schuften? Die Leute wollen bloß ein angenehmes Leben haben, das ist doch nicht zu viel verlangt! Acht Stunden sollen sie tüchtig ackern, aber du musst dafür sorgen, dass sie es die übrige Zeit schön gemütlich haben!«
Keinen der vielen Funktionäre, die ich kannte, hatte ich jemals so reden hören. Aus deren Mündern vernahm man immer nur die üblichen offiziellen Floskeln, He Dongsheng hingegen redete wie ein ganz normaler Mensch. Das machte ihn mir sympathisch.
Nach seinem plötzlichen Ausbruch fiel er wieder in sich zusammen wie ein luftleerer Ballon, und nippte stumm an seinem Weinglas. Wir taten es ihm nach.
Nach einer Weile ließ Jian Lin erneut sein Lob vernehmen: »Ein wirklich guter Tropfen ist das! Jetzt, wo das Aroma sich voll entfaltet hat, schmeckt er noch besser. Und das, obwohl wir abwechselnd Weißen und Roten trinken!«
Dann herrschte wieder eine Weile Stille. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass He Dongsheng nach dem Film nach Hause gehen würde, aber er blieb einfach sitzen. Also saßen wir weiter zusammen, schweigend. He Dongsheng rührte die Snacks auf dem Tisch nicht an, trank nur still seinen Wein. Jian Lin bot uns Zigarren an. Wir lehnten beide ab, und alleine zu rauchen war ihm unangenehm.
Als der Wein ausgetrunken war, kochte Jian Lin einen erlesenen Schwarztee, den He Dongsheng jedoch ebenfalls nicht anrührte. Erst als es schon bald Mitternacht war, stand er auf, um zur Toilette zu gehen.
Jian Lin beugte sich zu mir und flüsterte: »Er kann nachts nicht schlafen und geht deshalb gar nicht erst ins Bett. Was, wenn er ewig hier sitzen bleibt? Ich schaffe das nicht, die ganze Nacht durchzumachen! Normalerweise geh ich schon früh schlafen …«
»Ich will auch nicht die ganze Nacht hier verbringen«, sagte ich. Ich musste daran denken, dass He Dongsheng schon während des Films geschlafen hatte.
Als He Dongsheng von der Toilette zurückkam, fragte er, ob er mich nach Hause fahren solle.
»Nicht nötig, ich wohne ganz in der Nähe, ich kann zu Fuß gehen«, winkte ich ab. Überflüssigerweise fragte ich noch, ob sein Fahrer unten warte. Zu spät fiel mir ein, dass er ein hoher Funktionär war. Natürlich wartete sein Fahrer auf ihn.
Doch wider Erwarten sagte er: »Nachts fahre ich immer selbst. Ich mag es, Auto zu fahren. Manchmal fahre ich einfach herum, bis es hell wird. Wenn ich müde werde, mache ich im Auto ein Nickerchen.« Er fand wohl, dass er genug geredet hatte, murmelte ein undeutliches »Also, ich gehe dann« – und ging.
Ich bereute es ein wenig, sein Angebot ausgeschlagen zu haben, denn so nah gelegen war meine Wohnung auch wieder nicht. Am helllichten Tag ließ sich die Strecke gut zu Fuß bewältigen, aber jetzt, mitten in der Nacht, nahm ich doch lieber ein Taxi. Jian Lin unterdessen hatte es wirklich nicht weit, er wohnte im obersten Stock eines der anderen Häuser der Siedlung.
»Ich habe He Dongsheng schon lange nicht mehr gesehen«, erklärte er. »Er ist zu beschäftigt. Als wir uns neulich auf der Beerdigung meiner Tante getroffen haben, habe ich ihn spontan zum Filmabend eingeladen.«
»Ihr seid doch Cousins väterlicherseits, nicht wahr? Warum habt ihr dann
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