zur Stelle gewesen, um sie vor Schlimmerem zu bewahren, oftmals waren es ausländische Bekannte, die ihr zu Hilfe kamen. Doch solche Ausländer gab es nicht mehr. Heutzutage ging niemand das Risiko ein, es sich mit der KP zu verscherzen. Und wer dazu bereit war, bekam erst gar kein Einreisevisum. Den Menschen um sie herum ging es prächtig, niemandem war danach, unbequeme Fragen zu stellen. Ich konnte mir vorstellen, dass die meisten Menschen jemandem wie Xiaoxi aus dem Weg gingen. Das meinte sie wohl, als sie zu mir sagte, die Menschen um sie herum hätten sich verändert.
Nach der Begegnung mit Madame Song und Wei Guo war ich sicher, dass sie sich einmal mehr in Schwierigkeiten manövriert hatte. Und jetzt war mir auch klar, dass sie in dem kleinen Park beim Kunstmuseum tatsächlich beschattet worden war.
Wenn ich mich ihr näherte, würden ihre Probleme womöglich bald meine eigenen werden … Ich führte ein angenehmes Leben, ruhig, stabil, glücklich. Warum ein solches Risiko eingehen? Doch ich wusste, wenn wir uns treffen würden, bräuchte sie nur ein wenig Interesse an mir zu zeigen, und es wäre um mich geschehen. Auch wenn sie gealtert war, mehr Falten und graue Haare hatte als früher: Sie zog mich unvermindert an, auch in sexueller Hinsicht. Das verunsicherte mich. Ich hatte mich schon sehr lange nicht mehr so nach einer Frau gesehnt wie nach ihr. Doch angenommen, wir würden in einem Anflug stürmischer Leidenschaft tatsächlich ein Paar – es könnte gar nicht lange gut gehen. Sie sah in mir den Mann von vor zehn Jahren, der ihr gleich gesinnt und vertraut war. Doch in Wirklichkeit war ich auch bloß einer der »Veränderten«, von denen sie gesprochen hatte. Wir lebten in völlig verschiedenen Welten und sahen die Dinge aus gänzlich unterschiedlichen Blickwinkeln. Wir würden uns bestimmt kaum unterhalten können und auf keinen gemeinsamen Nenner kommen. Ich musste an Taiwan denken, an damals, als Chen Shui-bian zweimal nacheinander die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte. In meinem Freundeskreis hatte es einige Ehen gegeben, die an politischen Differenzen zerbrochen waren.
Ich saß vor dem Computer und starrte auf den Zettel, den Madame Song mir gegeben hatte. Unvermittelt kam mir ein Gedanke: Was war aus dem Roman geworden, den ich zu meinen Lebzeiten unbedingt noch schreiben wollte? Gab es etwas, was mir mehr bedeutete? Wie kam es dann, dass ich seit so langer Zeit nicht einen Satz zu Papier gebracht hatte? Mein Leben war zu ruhig, zu angenehm, zu sorgenfrei, oder anders gesagt: Ich war zu glücklich. Und wer konnte mich aus diesem Glückstaumel herausholen? Ganz offensichtlich Xiaoxi.
Auf dem Zettel stand ihre Adresse:
[email protected].
Xiaoxi
Mein Name ist Wei Xihong, aber alle nennen mich Xiaoxi.
Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll. Warum ist die Welt bloß so geworden, wie sie ist? Ich habe Angst, dass ich die Einzelheiten mit der Zeit vergesse, deshalb schreibe ich alles auf, woran ich mich erinnere, und speichere es in diesem Google-Dokument.
Ich werde beschattet. Warum verfolgt man mich? Was habe ich getan?
Gehen vielleicht bloß meine Nerven mit mir durch, und ich bilde mir das alles nur ein?
Aber falls nicht, dann steckt mit Sicherheit Wei Guo dahinter. Wie habe ich bloß einen solchen Teufel in die Welt setzen können?
Schon als Kind war er mir unheimlich. Ein Gesicht wie ein Engel, aber er log, wenn er nur den Mund aufmachte. Schmeichelte sich bei den Lehrern ein und umgarnte jeden, der ihm nützlich erschien, während er all diejenigen tyrannisierte, die schwächer waren als er. Seine Boshaftigkeit steckte bereits bei seiner Geburt in ihm, da bin ich sicher. Ja, er war von klein auf so. Heute denunziert er seine Kommilitonen, erschleicht sich ihr Vertrauen und hintergeht sie. Er macht anderen Menschen das Leben zur Hölle und tut dabei so, als würde er einem höheren Ideal dienen.
Mein Sohn steht für alles, was ich mein Leben lang verabscheut habe.
Sind es die Gene seines Vaters? Sind es meine? Hat das Erbe seines Großvaters eine Generation übersprungen? Oder vereint er gar die schlimmsten Eigenschaften mehrerer Generationen und Familienzweige in sich?
Er nimmt mir übel, dass ich ihm nie verraten habe, wer sein Vater ist. Das kann ich verstehen. In seinen Augen sind die Künstler und Literaten aus meinem ehemaligen Freundeskreis nichtsnutziger Abschaum, eine Gefahr für seine Karriere. Er verhöhnt mich, weil ich damals meine Richterlaufbahn