Die fetten Jahre
entfachen und ihn dazu bringen, das Restaurant zu retten.
Ich fühlte mich ohnehin schon miserabel, zudem überschätzte ich auch noch meine Trinkfestigkeit. Durch die Arbeit im Restaurant vertrug ich zwar einiges, aber an jenem Abend tranken wir keinen Erguotou, sondern Remy Martin. Ich trank zu viel und der ungewohnte westliche Alkohol tat sein Übriges. Es dauerte nicht lange und ich war völlig benebelt. Ich erinnere mich nur noch, dass im Fernsehen von Gorbatschows Besuch berichtet wurde, und Bancuntou mich fragte: »Was hältst du von ihm?«
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in seinem Bett. Bancuntou saß auf dem Sofa und las Zeitung, nur mit einer Unterhose bekleidet. Ich wusste, wir hatten miteinander geschlafen. Hatte ich mich an Shi Ping rächen wollen? Nein, das war nicht meine Art. Bancuntou hatte mich absichtlich betrunken gemacht! Als er sah, dass ich wach war, bemerkte er höhnisch: »Also, du hast es diesmal aber wirklich wissen wollen …«
Wütend erwiderte ich: »Du Mistkerl!«
»Hey, du bist auch nicht gerade die Jungfrau von Orléans.« Typen wie er waren immer schlagfertig, das wusste ich spätestens seit meiner Studienzeit. Also presste ich die Lippen zusammen und ging, meine starken Kopfschmerzen ignorierend, auf die Toilette, wo ich verzweifelt meinen Unterleib auswusch. Dann zog ich mich an und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Es folgte die Zeit, in der alle Welt sich auf dem Platz versammelte; Shi Ping las seine neuen Gedichte und solidarisierte sich mit den Studenten; wir beide taten so, als sei nichts gewesen, unser Verhältnis war aber merklich abgekühlt.
Dann fielen die Schüsse, Shi Ping und ich wurden getrennt.
Zehn Tage später verhafteten sie mich. Als sie jedoch feststellten, dass ich schwanger war, ließen sie mich wieder laufen.
Ich war bereits im dritten Monat. Während der Wochen vor dem 4. Juni hatte mich das Geschehen auf dem Platz so gefesselt, dass ich meine Schwangerschaft gar nicht bemerkt hatte. Ich glaubte anfangs noch, es sei Shi Pings Kind, doch je länger ich darüber nachdachte, desto größer wurden meine Zweifel.
Im alten Haus meiner Mutter trug ich meinen Sohn aus. Es lag um einen Hof mit mehreren angrenzenden Häusern, in denen größtenteils Funktionäre aus Politik und Gerichtsbarkeit lebten. Alle wussten von meiner Situation, wir mussten viele kritische Blicke und Kommentare ertragen. Zum Glück vereinte damals alle das Gefühl, haarscharf am Abgrund vorbeigeschlittert zu sein, sodass niemand ernsthaft versuchte, sich einzumischen.
Ich wartete sehr lange auf Nachricht von Shi Ping. Erst Jahre später erfuhr ich, dass er von der Operation Yellowbird nach Hongkong und von dort aus nach Frankreich geschleust worden war, wo er eine Französin geheiratet hatte. Er hat mir nie ein Zeichen gegeben, dass er in Sicherheit war.
Mein Sohn bekam meinen Familiennamen. Mit Vornamen nannte ich ihn Min, was Volk bedeutet. Mit zwanzig ließ er seinen Namen in Guo, Staat, ändern.
Das Restaurant blieb nach den Ereignissen auf dem Platz anderthalb Jahre geschlossen. Dann, im Herbst des zweiten Jahres, bekamen wir Bescheid: Wir konnten wiedereröffnen. Hatte sich Bancuntou für uns eingesetzt? Eher nicht.
Eilig machten wir uns an die Arbeit, um wieder etwas Geld zu verdienen. Anfangs lief das Geschäft alles andere als gut. Das Land befand sich in einer Wirtschaftskrise, in Peking griff die Arbeitslosigkeit um sich, und Jiang Zemin hatte der Schattenwirtschaft den Kampf angesagt. Die meisten unserer ehemaligen Stammgäste waren bei der Überprüfung ihrer Gesinnung aufgefallen und hatten ihre Anstellung verloren, sodass sie es sich weder leisten konnten noch in der Stimmung dazu waren, bei uns essen zu gehen. Die ausländischen Gäste hatten allesamt das Land verlassen und waren noch nicht wieder zurückgekehrt. Der Winter ’91 war hart.
Nach Deng Xiaopings Reise in den Süden im Jahr darauf begann sich die Lage in der Hauptstadt allmählich zu bessern. Wir konzentrierten uns voll aufs Geschäft, die Salonzeiten von früher waren passé. Zusammen mit meiner Mutter probierte ich neue Gerichte aus, verschönerte die Einrichtung des Ladens, suchte neue Köche aus Guizhou und lernte sie an. Nach und nach lief der Laden wieder, doch es war beileibe nicht leicht. Meine Mutter übernahm die Mittagsschicht, ich kümmerte mich tagsüber um meinen Sohn und abends um die Gäste. Einige unserer alten Stammkunden kamen nach und nach wieder und hatten viel zu
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