Die fetten Jahre
erzählen. Oft kamen sie um halb sechs und blieben bis Mitternacht. Manchmal setzte ich mich dazu, aber Punkt zwölf wurde der Laden dicht gemacht, durchgemachte Nächte gab es nicht mehr. Mitte der neunziger Jahre kehrte auch die Redefreiheit wieder an die Tafel zurück. Aus den Worten der Gäste und einigen aus Hongkong eingeschmuggelten verbotenen Büchern erschloss sich mir nach und nach das wahre Antlitz der jüngeren chinesischen Geschichte, insbesondere die Zeit, die meine Eltern noch miterlebt hatten.
Auch die Gäste aus Hongkong und Taiwan und unsere ausländische Kundschaft kamen nun wieder. Peter – ich nannte ihn Pete – stieß um die Zeit der Rückgabe Hongkongs an China zu unserem Kreis dazu. Pete arbeitete bei einer ausländischen Nachrichtenagentur, war etwas jünger als ich und ein wenig schüchtern. Er hörte aufmerksam zu, wenn ich von den Geschehnissen ’89 erzählte. Wir kannten uns etwa zwei Jahre, als er mich förmlich fragte, ob ich mit ihm zusammen sein wolle. Er war sehr nett und zu jener Zeit gab es auch sonst keinen, der mir seine Liebe offenbart hätte, also willigte ich ein. Mir war bewusst, dass wir nicht bis ans Ende unserer Tage zusammen- bleiben würden – dafür waren meine Gefühle für ihn einfach nicht stark genug. Deshalb zog ich auch nicht zu ihm, und als er vor seiner Abreise um meine Hand anhielt, lehnte ich ab und blieb in Peking zurück.
Damals liebten es meine Freunde, das politische Geschehen zu diskutieren und Kritik an der Regierung zu üben. Deswegen kann ich mich auch einfach nicht daran gewöhnen, dass seit zwei Jahren, seit dem Ausbruch des sogenannten Goldenen Zeitalters in China, alle plötzlich rundum zufrieden sind mit dem Status quo. Kritische Worte findet längst keiner mehr. Wie es eigentlich dazu kam, weiß ich nicht mehr genau, weil ich lange in der Psychiatrie und so vollgepumpt mit Medikamenten war, dass ich mich nur noch verschwommen an diese Zeit erinnern kann.
Laut meiner Mutter war ich eines Tages nach Hause gekommen und hatte bloß noch »Es geht wieder los! Es geht wieder los!« gerufen. Sie sagt, ich hätte die ganze Nacht nicht geschlafen, nur unablässig vor mich hingemurmelt. Im Morgengrauen hätte ich mich dann in den Hof gestellt und laut auf die Partei, die Regierung, die Nachbarn und die hundsgemeinen Gerichte geflucht. Und das in einer Siedlung, in der fast nur Angehörige eben dieses Rechtssystems leben! Nach einer Weile bin ich wohl ohnmächtig geworden. Als ich zu mir kam, war ich bereits in der Klapse. Er habe das veranlasst, sagte mir Wei Guo später. Mit der Einweisung habe er mich vor Schlimmerem bewahrt, so konnte ich nicht mehr in aller Öffentlichkeit solchen Unsinn von mir geben. Sonst hätte man mich womöglich gleich an die Wand gestellt, als die Kampagne anlief.
Als ich entlassen wurde, waren die Menschen um mich herum nicht mehr dieselben. Ich fragte sie, was während meiner Zeit in der Anstalt passiert war, aber niemand konnte mich aufklären. So ist das bis heute. Entweder geben sie nur vor, sich nicht zu erinnern, oder sie haben es wirklich komplett vergessen. Schwer zu sagen. Wenn ich die Vergangenheit anspreche, insbesondere die Ereignisse vom 4. Juni ’89, stoße ich auf völliges Desinteresse oder ernte gar nur verständnislose Blicke. Von der Kulturrevolution sind bloß noch ein paar lustige Anekdoten aus der Zeit der Landverschickung präsent, kaum mehr als eine Ansammlung romantisch verklärter Kindheitserinnerungen, nicht der geringste Kontrast zum dunklen Geschehen ringsum. Es ist, als sei ein Teil der kollektiven Erinnerung in ein tiefes Loch gefallen, aus dem sie niemand mehr hervorholt. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Haben die anderen sich verändert oder stimmt mit mir etwas nicht?
Vielleicht ist meine Verwirrung auch nur eine Nebenwirkung der vielen Psychopharmaka, die ich bekommen habe.
Ich verbringe jetzt meine Tage im Internet und fange unter verschiedenen Pseudonymen Streit mit anderen Usern an.
Viele der »jungen Patrioten«, die das Vaterland im Netz vehement gegen alles und jeden verteidigen, sind in Wirklichkeit gar nicht mehr so jung. Es sind auch fünfzig- und sechzigjährige Kinder der Kulturrevolution darunter, die sich die alte Parole von Mao, nach der die Angelegenheiten des Staates auch die der Jugend sein sollten, scheinbar sehr zu Herzen genommen haben und immer noch gerne die Staatsgeschäfte kommentieren. Sie haben nicht studiert und ihr Leben lang immer nur die
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