Die fetten Jahre
Drecksarbeit für den Rest der Gesellschaft gemacht, sie gehören nicht zu den Profiteuren der Wirtschaftsreformen und der Öffnung des Landes. Inzwischen sind sie in Rente und haben das Internet entdeckt, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und sich Luft zu machen. Sie bedienen sich der revolutionären Rhetorik der Kulturrevolution, verehren Mao Zedong wie einen Gott, betonen ihre Vaterlandsliebe und halten fest am alten Feindbild USA, oftmals mit unverhohlener Kriegslust. Die kulturelle Aufklärung der Achtziger und die ideologischen Debatten der Neunziger sind spurlos an ihnen vorbeigegangen. In ihren Köpfen dominiert ungebrochen die kommunistische Weltsicht. Mit ihnen streite ich mich am liebsten. Ich mische mich in ihre patriotischen Online-Foren und die Chat-Rooms ihrer Klassenverbände, konfrontiere sie mit Fakten und mit ihnen verhassten Standpunkten, am liebsten aber mit Auszügen aus der Verfassung. Das macht sie rasend, und sie überziehen mich geschlossen mit ihren Verbalattacken.
Mir geht es darum, ihnen und der Welt zu sagen: Vergesst niemals! Die Kommunistische Partei ist nicht so großartig, glanzvoll und ewig gerecht, wie sie sich selbst propagiert.
Aber vor allem will ich damit meine eigene Erinnerung wach- halten.
Meine Beiträge werden natürlich immer schnell gelöscht oder lassen sich erst gar nicht posten. Um das, was die anderen schreiben, kümmert sich hingegen keiner.
Bestimmt hat Wei Guo von meiner Rumtreiberei im Netz Wind bekommen und mich wieder mal angezeigt, sodass man mich seit einiger Zeit überwacht.
Ich fühle mich einsam. Außer meiner Mutter kann ich niemandem trauen. Kürzlich habe ich im SDX-Buchladen Chen getroffen, einen alten Bekannten. Er war früher oft bei uns im Restaurant und wir haben uns viel unterhalten. Ich habe ihn immer als einen von uns angesehen, und außerdem ist er Taiwaner, also habe ich mich an ihn geklammert und ihm alles Mögliche erzählt. Bis mir irgendwann bewusst wurde, dass wir uns zehn Jahre nicht mehr gesehen haben und er vielleicht gar nicht mehr der Chen von damals ist. Die Taiwaner und Hongkonger heute sind nicht mehr die Taiwaner und Hongkonger von früher, denn auch dort hat sich einiges geändert. Ich habe dann lieber den Mund gehalten und mich unter irgendeinem Vorwand schnell verabschiedet.
Ich hätte nicht gedacht, dass er bei meiner Mutter im Restaurant auftauchen würde – leider ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als Wei Guo gerade da war. Meine Mutter hat ihm sogar meine E-Mailadresse zugesteckt. Sie hofft wahrscheinlich immer noch, dass ich einen Mann finde, der mich »wieder zur Besinnung« bringt. Sie glaubt, dass ich unter den Festlandchinesen niemals einen Mann finden werde, der mit mir auskommt, deshalb stellt sie mir jeden Kerl aus Taiwan oder Hongkong vor, den sie trifft. Wie könnte ich es ihr verübeln? Eine Tochter wie ich, die ihr immer noch auf der Tasche liegt. Und die Ärmste muss täglich mit Wei Guo umgehen und sich an meiner Stelle um ihn kümmern. Seinetwegen traut sie sich nicht einmal, mir vom Computer im Restaurant aus zu mailen, sondern rennt jedes Mal in ein anderes Internetcafé, damit er meinen Aufenthaltsort nicht herausfindet. Sie würde niemals einen Menschen, den sie liebt, aufgeben. Wenn an mir etwas Gutes ist, dann habe ich das allein von ihr.
Soll ich das Risiko eingehen und auf Chens Mail antworten? Ich sehne mich so sehr danach, jemanden zu haben, mit dem ich von Angesicht zu Angesicht sprechen kann. Aber in den letzten zwei Jahren gab es nur Enttäuschungen. Mit niemandem, den ich getroffen habe, kam ich auf einen gemeinsamen Nenner. Sollte Chen vielleicht die große Ausnahme sein?
Zhang Dou
Ich bin Zhang Dou, zweiundzwanzig Jahre alt.
Ich nehme das hier in Miaomiaos Wohnung auf, im Bezirk Huairou, Peking.
Ich komme ursprünglich aus Henan, meine Eltern waren Bauern. Seit meiner Kindheit habe ich Asthma – dafür bin ich aber ziemlich groß gewachsen. Schon mit dreizehn sah ich aus wie sechzehn. Am Bahnhof haben sie mich angesprochen und weggelockt. Sie haben mich nach Shanxi gebracht, in eine illegale Ziegelei, wo ich drei Jahre lang Bauziegel machen musste. Ein paar Mal war mein Asthma so schlimm, dass ich fast dran gestorben wäre. Einmal habe ich versucht abzuhauen. Ein Mann gabelte mich auf und wollte mir helfen, er brachte mich zur Arbeitsverwaltung, aber die haben mich dann nur an eine andere Ziegelei weiterverkauft. Vor sechs oder sieben Jahre haben dann die Medien von den
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