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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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ihm gehalten. In seiner Jugend hatte er sich ausgemalt, wie er einmal nach Ghana, Sambia, Tansania oder in einen anderen befreundeten Staat der Volksrepublik reisen und humanitäre Hilfe leisten würde, also hatte er nicht einen Moment gezögert, sondern hatte sogleich den Flug gebucht, als die Einladung kam. Tatsächlich wollte der Bekannte in den Chinahandel einsteigen, mit Fang als Geschäftspartner. Fang hatte die Idee, in China große Mengen der dort allgegenwärtigen riesigen weiß-rot-blauen Allzweck-Plastiktragetaschen einzukaufen und ganz Mittel- und Westafrika damit zu beliefern.
    Die Taschen kamen bei den Afrikanern gut an, sodass Fang und sein Geschäftspartner in Lagos eine eigene Fabrik aufmachten. Es war ein einträgliches Geschäft und so hatte Fang inzwischen auch Ghana, Sambia und Tansania bereist. Da er seinen Lebensabend aber nicht in Afrika verbringen wollte, entschloss er sich zur Rückkehr nach China. Fang plante, in Lijiang einen kantonesischen Imbiss aufzumachen, doch glücklicherweise hatte er es damit nicht eilig und verpasste so das große Beben von 1996, das weite Teile der Stadt dem Erdboden gleichmachte und auch seine Imbisspläne vereitelte. Fang bekümmerte das nicht, er begann stattdessen den Westen Chinas zu bereisen, bevor dieser von Touristenmassen überrannt würde, wie er sagte. Ich erinnere mich genau an seine geradezu prophetischen Worte: »Wenn die Chinesen erst einmal anfangen zu reisen, dann ist die Überfüllung vorprogrammiert, historische Sehenswürdigkeiten werden dann schnell ihren Reiz verlieren.«
    Im Nu gingen sieben oder acht Jahre ins Land, die ihn nach Xinjiang, Tibet, die innere Mongolei, Qinghai, Yunnan, Guizhou, Hunan und Sichuan führten. Zu Fuß, im Zug, per Überlandbus oder Anhalter – Fang probierte jede Art der Fortbewegung aus, einmal nahm ihn sogar ein Transportflugzeug der Armee mit. Er konnte jede Minderheit an den Farben und Mustern ihrer Kleidung erkennen, wusste sofort, ob es sich um Zhuang, Yao, Miao oder sonst einen Volksstamm handelte und wo er angesiedelt war. Wenn das Geld knapp wurde, verdingte er sich an einem der Touristenmagneten als Koch, arbeitete am Fuße des Wutai-Gebirges und der Emei-Berge, bei den Yangshuo-Höhlen in Guilin und den Miao-Dörfern in Guizhou. Touristen kamen immer nur einmal, daher ließ sich mit ihnen ähnlich leicht Geld machen wie mit der ausländischen Kundschaft in Chinatown, die das verwestlichte Essen dort tatsächlich für echt chinesische Küche hielt.
    2006 kam er nach Peking, um als Freiwilliger bei der Olympiade mitzuarbeiten. Als wir uns damals wiedertrafen, erfuhr ich, dass er schon vor Jahren seinen Namen geändert hatte: Aus Fang Lijun war Fang Caodi geworden. Er war einmal an der Fangcaodi Primary School in Peking vorbeigekommen, als gerade eine Menge Eltern ihre Kinder vom Unterricht abholten. Da hatte er beschlossen, seinen Namen in Fang Caodi zu ändern, was soviel wie Wiese oder Grasland bedeutet. Das ist Fangs Logik. Eine ohne Logik auskommende Logik. Ob seine Bewerbung als Freiwilliger angesichts seines fortgeschrittenen Alters und verschlungenen Lebenslaufes am Ende erfolgreich war, weiß ich nicht.
    Nach Eintauchen ins alte Peking, das noch vor der Olympiade erschien, wollte ich ja endlich meinen großen Roman schreiben; meine Aufzeichnungen über Fang blieben jedoch weiter unangetastet. Um ehrlich zu sein, hatte ich das Interesse am China vor 2008 verloren, ich wollte Geschichten von heute erzählen, aus dem Goldenen Zeitalter Chinas. Den alten Kram wollte ich mir nicht mal anschauen. Bürgerkrieg, Landreform, Kampagne gegen Konterrevolutionäre, Drei-Anti- und Fünf-Anti-Kampagne, Kampf gegen Rechtsabweichler, Invasion Tibets, »Großer Sprung nach vorn« mit dreißig Millionen Hungertoten, die Vier Säuberungen, Kulturrevolution, Anti-Kriminalitätskampagne ’83, Niederschlagung der Studentenproteste am 4. Juni ’89, Unterdrückung der Falun-Gong-Bewegung ’99 … Es gab viele Dinge, die ich lieber vergaß. Erst wenn ich vergessen hatte, würde ich die neuen Themen und Anregungen finden, über die ich schreiben wollte. Ich glaubte auch nicht, dass die neue Lesergeneration sich noch für die Wundmale der vergangenen sechzig Jahre interessierte.
    Auf Fangs Mail reagierte ich zunächst nicht. Das hatte keine Eile.

Französischer Kristallleuchter
    Xiaoxi antwortete nicht. Mein glückerfülltes Leben konnte weitergehen.
    Ich fuhr nach 798, der Kunstfabrik Pekings, und besuchte eine

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