Die fetten Jahre
Vernissage. Installationskunst, Scherenschnitte von Künstlerinnen aus dem Nordwesten. Eingeladen hatte die neu gegründete Stiftung Wiedergeburt Chinesischer Kulturschätze, die International Folk Arts Association und die UNESCO. Meine Freundin Hu Yan von der Akademie der Sozialwissenschaften war wissenschaftliche Kuratorin der Ausstellung und hatte mich gebeten, als einer von zehn Rednern eine kurze Eröffnungsrede zu halten. Ich sprach kurz über die Neue-Gemeinden-Bewegung im Taiwan der neunziger Jahre, den Zusammenschluss von Künstlern aus Taipeh mit Kunsthandwerkern auf dem Land, und wie dies dem Kunstgewerbe neues Leben eingehaucht hatte. Meine eigenen Worte rührten mich. Und nicht nur mich: Auch für Hu waren die Werke Ausdruck der Lebenskraft der chinesischen Zivilgesellschaft. Wir alle fühlten uns in einem Rausch der Einheit und Harmonie verbunden.
Beim anschließenden gemeinsamen Mittagessen im nahe-gelegenen Golden South Restaurant saß ich mit den Leuten der Kulturschätze-Stiftung am Tisch. Der stellvertretende Geschäftsführer sprach über die wichtigsten Projekte der Stiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Kulturschätze aus dem Alten Sommerpalast und anderen geplünderten Kulturstätten zurück in die Heimat zu holen. Abgesehen davon setzte sie sich im ganzen Land dafür ein, traditionelle chinesische Riten wiederzubeleben. Die Stiftung forderte gar, einige alte Rituale und Bräuche an den Schulen – wie beispielsweise das Niederknien vor dem Lehrer zu Beginn des Unterrichts – gesetzlich vorzuschreiben.
Nach dem Hauptgang verschwand ich auf die Toilette. Als ich wiederkam, hatten sich noch mehr Leute an unserem Tisch versammelt, um den Ausführungen des Stiftungsvertreters zu lauschen. Mein Platz war inzwischen besetzt, ich musste an einen der anderen Tische ausweichen.
Hu Yan saß mit einer französischen Vertreterin der UNESCO und einem Thailänder von der Folk Arts Association zusammen. Sie unterhielten sich auf Englisch, was mir zu anstrengend erschien, also ging ich weiter. Am Tisch mit den Künstlerinnen waren reichlich Plätze frei, denn die anwesenden Journalisten hatten sich inzwischen alle um den Stiftungsvertreter versammelt und die drei schon recht betagten Meisterinnen des Scherenschnitts mit zwei Dorfvorsteherinnen und der Vize-Kulturbeauftragten einer Kleinstadt aus der Region allein am Tisch zurückgelassen. Die Gesichter der drei älteren Damen waren freundlich und aufgeschlossen. Ich setzte mich zu ihnen und kam mit der Vize-Kulturbeauftragten, die direkt neben mir saß, ins Gespräch. Sie sprach sehr laut, brüllte mir fast ins Ohr; aber das, was sie sagte, war logisch und nachvollziehbar. Sie kam aus einem Ort namens Dingxi in der Provinz Gansu. Früher war das eine der ärmsten Regionen des Landes gewesen, doch nach Beginn der Wirtschaftsreformen ’78 hatte man es durch jahrelange unermüdliche Anstrengungen schließlich geschafft, der Armut zu entkommen. Sie erzählte mir, wie die Bauern auf Anregung der Lokalregierung vor ein paar Jahren begonnen hatten, sich in professionellen Kooperativen zusammenzuschließen und auf den Anbau einiger bestimmter Pflanzensorten zu spezialisieren. Das Konzept war ein großer Erfolg: Dingxi war inzwischen zu einem der wichtigsten Anbaugebiete für Kartoffeln geworden und belieferte KFC und McDonald’s im ganzen Land mit Spezialsorten. Für überschüssige Arbeitskräfte organisierte man den Einsatz bei der Baumwollernte in Xinjiang, wo sich die Leute etwas Geld hinzuverdienen konnten.
Es war eine äußerst lehrreiche Unterhaltung. Ich fragte sie, was ihrer Meinung nach letztendlich der Grund dafür war, dass Dingxi es geschafft hatte, während andere Regionen mit besseren Voraussetzungen weiter in Armut gefangen waren. Freimütig antwortete sie, Dingxi habe das große Glück, dass dort ein Mann an der Macht sei, der wirklich etwas bewegen wolle. Ich spürte, dass sie damit den Kern der Sache getroffen hatte: Alles stand und fiel mit den Menschen. Wenn die Offiziellen vor Ort bereit waren, etwas Handfestes zu tun, dann tat die Bevölkerung das Ihre, um die Wirtschaft zum Laufen zu bringen. Vereinfacht hieß das: Die Parteikader brauchten nur genügend Handlungswillen an den Tag zu legen, dazu etwas mehr moralische Integrität und fachliche Kompetenz, dann ging es den Chinesen gut.
Als sich nach dem Essen die Gesellschaft auflöste, bedankte ich mich bei der Dame für die wertvolle Lektion. Sie hoffe, mich einmal in ihrem
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