Die fetten Jahre
keine Einstiche an den Armen.«
»Ich spritze mir nichts, die Kunden mögen das nicht.«
»Was nimmst du denn?«
»Alles Mögliche, was sich eben so auftreiben lässt.«
»Du musst mir gleich aufschreiben, was genau du alles genommen hast«, sagte ich geistesgegenwärtig. »Erzähl weiter, was ist mit den Drogen?«
»Mit Drogen ist es so: mal ist man high und mal ist man down, verstehst du? Aber manchmal, da ist man hellwach und klar. In solchen Augenblicken fällt mir auf, dass die Welt sich verändert hat, dass mit den Leuten um mich herum irgendwas nicht stimmt.«
»Was stimmt nicht mit ihnen?«
»Irgendetwas passt einfach nicht, sie sind nicht mehr so wie früher, du eingeschlossen, Chen. Alle sind zu … zu glücklich. Es ist schwer zu beschreiben, auf jeden Fall sind die Leute anders, nicht völlig abgehoben high wie auf einem Trip, eher so eine Art warmes, behagliches kleines Dauerhigh.«
Ich dachte intensiv über ihre Worte nach. Ich hatte eine Ahnung, was sie meinte, doch noch fehlte mir die nötige Distanz, um wahrzunehmen, dass ich selbst auch zu diesen Leuten zählte.
Sie fuhr fort: »Mein Freund und ich, wir halten das nicht mehr aus. Er ist Australier, hat früher Reiseführer für Backpacker geschrieben und ist jetzt seit zwanzig Jahren in China. Er sagt immer, die kollektive Psyche der Chinesen mutiert alle paar Jahre. Dengs Südinspektion ’92 war so eine Mutation, ’94 die makroökonomische Steuerung, ’97 die Rückgabe Hongkongs, der WTO-Beitritt zur Jahrtausendwende, 2003 SARS, 2008 der gestörte Fackellauf und die Olympiade … Die letzten zwei Jahre waren ebenfalls eine solche Mutation. Früher waren immer Länder wie Nigeria, Venezuela oder Puerto Rico ganz vorne, wenn es um das Glücksempfinden der Durchschnittsbevölkerung ging, sagt er. Die Menschen dort fühlten sich gut, während China immer irgendwo auf den hinteren Plätzen landete. Jetzt plötzlich, in den letzen zwei Jahren, führt China auf einmal die Liste an; über eine Milliarde Menschen fühlen sich bestens. Sind die Chinesen etwa alle gestört? Geht es ihnen wirklich so gut?«
Dieser Freund hatte Xiaodong in der Tat zu ein paar bemerkenswerten Ansichten verholfen, dachte ich.
Sie fuhr fort: »Mein Freund nimmt auch Drogen. Wir haben mal zusammen was genommen und uns danach über Jane Austen unterhalten, das war einfach nur abgefahren, seitdem sind wir zusammen. Kannst du dich noch an die Anti-Kriminalitätskampagne erinnern? Damals wohnte ich doch noch in Wangjing. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand mich anschwärzte, deshalb habe ich mich bei meinem Freund versteckt, er hatte eine Diplomatenwohnung. Ein paar Wochen lang ging ich nicht auf die Straße. Wer weiß, ob ich sonst heute noch am Leben wäre. Kannst du dich an diese Zeit erinnern?«
»Meine Erinnerung an damals ist ziemlich verschwommen …«, antwortete ich.
»Sich nicht zu erinnern ist die Norm. Leute wie wir, die alles noch wissen, sind die große Ausnahme. Das ist auch der Grund, warum mein Freund und ich es in Peking nicht mehr aushalten. Hinzu kommt, dass es in den letzten zwei Jahren immer schwieriger geworden ist, sich hier mit Stoff zu versorgen. Es gibt anscheinend immer weniger Gleichgesinnte. Deshalb sind wir Anfang des Jahres nach Yunnan in die Berge gefahren, um mal zu sehen, ob es dort vielleicht etwas besser ist. Die Menschen dort waren uns wirklich ähnlicher. Natürlich waren viele, die wir getroffen haben, auch Tripgänger wie wir. Es waren einige fiese Typen dabei, aber auch Leute, die echt in Ordnung waren. Wir trafen auch welche von den Bergstämmen, von denen keiner so merkwürdig dauerhigh war wie die Flachländer. Mein Freund nennt es high-lite-lite. Er spitzt die Dinge gerne zu. Die Leute sehen heute alle aus wie die properen Arbeiter, Bauern und Soldaten auf den Propagandaplakaten der Kulturrevolution, sagt er. Du bist einer von ihnen, deshalb fällt es dir wahrscheinlich nicht auf. Es ist nicht nur in Peking so – wo auch immer wir hingekommen sind: Alle sind high-lite-lite, mit Ausnahme der Bergvölker und der Grenzregionen im äußersten Westen. Mein Freund und ich haben lange beraten und beschlossen, uns in Yunnan niederzulassen, in der Nähe der Grenze zu Birma, wo die Bundesstraße 320 verläuft.«
»Ich kenne eine Frau, die sich so ähnlich fühlen muss wie du. Sie kann das Dauerhigh auch nicht ertragen.«
»Ja?«
»Sie nimmt Antidepressiva.«
»Vielleicht haben die eine ähnliche Wirkung«, sagte Xiaodong
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