Die fetten Jahre
nachdenklich.
»Das kann gut sein. Sie ist der zweite Weg, nach dem ich gefragt habe.«
Das post-kontroverse Zeitalter
»Das post-kontroverse Zeitalter!« Zhuang Zizhong, alternder Patriarch und Gründungsmitglied des Dushu-Magazins, hatte sich diesen Begriff selbst ausgedacht. Dass er nach all den Jahren des Hin und Her diese Epoche des glücklichen Wohlstands noch erleben durfte, dieses endlich ungehemmt auf sich und all seine Pracht blickende China noch mit eigenen Augen sehen konnte, erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit. Er hatte dies vor allem seiner Zähigkeit zu verdanken, wie er sich des Öfteren ins Bewusstsein rief. Die übrigen Mitbegründer von Dushu waren allesamt schon verstorben, deshalb erntete jetzt er alleine den ganzen Ruhm. Zu Neujahr hatte er Besuch vom Verantwortlichen für Kultur und Propaganda des Politbüros erhalten. Dieser hatte ihn zu Hause aufgesucht, ein Journalistenteam von CCTV im Schlepptau. Mit dem persönlichen Besuch des Ministerpräsidenten beim alten Ji Xian damals konnte das zwar nicht mithalten, aber in der Kultur- und Verlagsszene war es trotzdem Gesprächsthema Nummer eins gewesen. Zhuang Zizhong war kein berühmter Sinologe oder gefeierter Schriftsteller. Die Nachricht, dass der alternde Herausgeber einer Literaturzeitschrift mit solch hohem Besuch beehrt worden war, hätte man vor ein paar Jahren noch für einen dummen Scherz gehalten. Es zeigte, welch große Bedeutung die gegenwärtige Führung der intellektuellen Schicht beimaß. Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte es das nicht mehr gegeben. Zhuang Zizhong betonte bei jeder Gelegenheit, dass die Ehre eigentlich Dushu gebühre. Die harte Arbeit, die mehrere Generationen von Mitarbeitern in den vergangenen dreißig Jahren geleistet hatten, war nicht vergebens gewesen und hatte nun endlich die verdiente Anerkennung seitens der politischen Führung des Landes erfahren. Zhuang Zizhong musste an das mangelnde Verständnis denken, das die Partei dem Magazin anfangs entgegengebracht hatte, an die vielen Steine, die ihnen in den Weg gelegt worden waren. Auch wenn man sich später mit der Partei arrangiert hatte – ihr Vertrauen hatte man nie ganz gewinnen können. Doch in den letzten zwei Jahren hatte sich alles zum Besseren gewendet. Zunächst war da die wundersame Harmonie, die sich in der gesamten Redaktion ausgebreitet hatte, gefolgt von der großen Einhelligkeit in Sachen Staatslenkung, die neuerdings unter den früher stets uneinigen Autoren herrschte. Insbesondere dank der Debatte über das Neue Goldene Zeitalter, welche die Redaktionsleitung vor zwei Jahren angestoßen hatte, war Dushu wieder zu alter Größe gelangt. Man hatte nicht nur die verloren geglaubte Vorreiterstellung im Kulturbetrieb wieder inne, sondern darüber hinaus auch größte Wertschätzung von ganz oben erhalten.
Zhuang Zizhong dachte an die Zehn Leitgedanken für das Neue Goldene Zeitalter, die man damals formuliert hatte.
Erstens: eine demokratische Einparteiendiktatur
Zweitens: Rechtsstaatlichkeit mit Wahrung der Stabilität als höchstem Ziel
Drittens: eine autoritäre Regierungsführung im Sinne des Volkes
Viertens: eine staatlich gelenkte Marktwirtschaft
Fünftens: durch Staatsunternehmen angeführter fairer Wettbewerb
Sechstens: ein wissenschaftliches Entwicklungskonzept chinesischer Prägung
Siebtens: eine selbstzentrierte harmonische Außenpolitik
Achtens: eine multi-ethnische Gemeinschaft unter souveräner
Führung einer Volksgruppe
Neuntens: ein post-westliches, post-universelles Wertesystem
Und zehntens: die Renaissance der chinesischen Nation mit ihrer unvergleichlichen Zivilisation.
An diesen Positionen war aus heutiger Sicht nichts Außergewöhnliches mehr, sie waren längst breit akzeptierter Konsens. Warum war damals bei Dushu selbst erst eine so lange Debatte nötig gewesen? Wie dem auch sei – für Zhuang Zizhong war die Anerkennung seitens der Partei, die seiner Zeitschrift zuteil wurde, gleichbedeutend mit der lange ersehnten Bestätigung seiner eigenen Treue zum Vaterland und dessen Führung. Es war der größte Erfolg, den er auf seine alten Tage errungen hatte.
Seine neue, wesentlich jüngere Ehefrau schob ihn im Rollstuhl zum Auto. Nach dem Neujahrsbesuch durch die Staatsführung hatte der zuständige Vertreter des Parteikomitees ihm einen Dienstwagen samt Fahrer zur Verfügung gestellt. Dieser Wagen brachte ihn nun jeden Samstagnachmittag zum Buchladen von SDX, wo er sich ein wenig
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