Die fetten Jahre
zu nennen war schon ziemlich dick aufgetragen. Doch dann kam ihm der Lieblingsspruch von Wei Xiaobao in den Sinn, einer Figur aus Louis Chas Kungfu-Klassiker Der Hirsch und der Kessel: »Vom Speichellecken ist noch keiner gestorben.« Was war schon dabei, jemandem eine kleine Freude zu machen?
Blowin’ in the Wind
Zu Hause angekommen, nahm Chen ein Mittel gegen Erkältung und Kopfschmerzen. Er fiel in einen dämmrigen Schlaf, aus dem er erst am nächsten Morgen wieder erwachte, ohne sich wirklich ausgeruht zu fühlen. Mittags goss er sich ein Päckchen Meister Kang-Instant-Nudeln auf, in einer der hundert verschiedenen Geschmacksrichtungen, die inzwischen angeboten wurden. Chen achtete nicht darauf, welchen Geschmack seine hatten. Anschließend suchte er auf den großen Buchportalen im Internet nach Büchern von Yang Jiang, fand jedoch nicht einmal einen Eintrag im Verzeichnis.
Als Nächstes suchte er nach Themen. Zum 4. Juni 1989 und der Verfolgung der Falun-Gong-Anhänger ab ’99 gab es erwartungsgemäß keine Treffer; aber selbst zu Themen, über die man in den achtziger- und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sprechen durfte, fand sich kaum noch etwas: die Landreform, die Kampagne gegen Konterrevolutionäre, die Drei-Anti- und Fünf-Anti-Bewegung, der Kampf gegen Rechtsabweichler, die Drei Katastrophenjahre, der Tibet-Aufstand von ’59, die Kulturrevolution, die Demokratiemauer von Xidan, die Anti-Kriminalitätskampagne von ’83 … Bei der Suche stieß Chen lediglich immer wieder auf Lesebuch Modernes China und Allgemeine Einführung in die Neuere Chinesische Geschichte, zwei von offizieller Seite in Auftrag gegebene Standardwerke zum Thema.
Fang Caodi konnte einen zuweilen schon ganz schön verblüffen, dachte Chen. Er hatte scheinbar auf ganzer Linie Recht. Tausende und abertausende Bücher wurden angeboten, doch weder in den zahllosen Buchläden und großen Buchkaufhäusern im Land noch im angeblich lückenlosen Sortiment der Online-Buchhändler fand man Bücher mit den wahren Fakten der jüngeren chinesischen Geschichte. Wieso war ihm das nicht früher aufgefallen? Zur Zeit der Kulturrevolution und nach Beginn der Reform und Öffnung Chinas gab es kaum Bücher; den Menschen war klar, dass man ihnen die Wahrheit vorenthielt. Jetzt gingen einem vor lauter Büchern schier die Augen über, es gab mehr davon, als man jemals lesen konnte. Die Wahrheit war aber nach wie vor unter Verschluss. Der Eindruck der Menschen, sie könnten ihren eigenen Leseinteressen folgen und frei auswählen, worauf sie gerade Lust hatten, war bloß eine Illusion; sie sahen nicht, dass sie bevormundet wurden.
Chen machte sich an die freie Suche im Internet. Dass sich auch hier nichts zu den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens ’89 fand, war nicht weiter verwunderlich; doch auch, was die Links zur Kulturrevolution anging, war nichts Verwertbares dabei, nur nostalgisch verklärte Erinnerungen an eine stets sonnenbeschienene Jugend. Die wenigen Seiten, die sich mit historischen Ereignissen befassten, boten lediglich eine vereinfachte und bereinigte Version. Kein Wunder, dass die jungen Leute nicht mehr sagen konnten, wer die Viererbande war. Wer nach 1980 geboren war, hatte noch nie etwas von Wei Jingsheng oder Liu Binyan gehört. Deshalb gab es jedes Mal, wenn Wang Dan an Universitäten im Ausland über die Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 sprach, Zwischenrufe und Beschimpfungen von chinesischen Gaststudenten, denn diese konnten die Wahrheit über die Ereignisse damals gar nicht kennen, weder aus Büchern noch aus dem Internet und erst recht nicht aus der Schule oder den traditionellen Medien.
Was das Wissen über die neuere chinesische Geschichte anging, gab es eine dramatische Kluft zwischen den Generationen, sinnierte Chen. Manche Dinge gehörten für die Generation der Fünfzig- oder Sechzigjährigen zum selbstverständlichen Allgemeinwissen, über das sie auch nach Jahren noch sprachen, wenn sie sich trafen. Zu Hause hatten sie die Bücher und Zeitschriften, die man heute nicht mehr fand, und daher bemerkten sie nicht, dass sie langsam aber stetig zu einer Minderheit wurden. Sie standen nicht mehr für die breite Masse der Gesellschaft und hatten auch keine Möglichkeit, ihr Wissen an die jüngere Generation weiterzugeben. Die Jüngeren wussten somit überhaupt nicht mehr, wie es früher wirklich gewesen war.
Chen musste an das falsche Paradies und die gute Hölle denken. In der
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