Die fetten Jahre
Altersgenossen vom Festland Romane aus dem zaristischen Russland lasen, studierte Chen die zeitgenössische amerikanische Literatur. Es bereitete ihm ein schlechtes Gewissen, als Schriftsteller keinen der russischen Klassiker gelesen zu haben. Irgendwann würde er das schon noch nachholen, hatte er sich immer gesagt. Jetzt waren seine Jahre bald gezählt, worauf wartete er also noch? Er hatte seinen Kanon an Klassikern, was brauchte er da allzu große Freiheit?
Außerdem gab es ja möglicherweise in Zukunft eine Lockerung auf fünfundneunzig Prozent – sofern die Verhältnisse im Land es erlaubten. Wer weiß, vielleicht waren es sogar heute schon fünfundneunzig Prozent! Das war kaum weniger als im Westen. Dort gab es auch Beschränkungen der Meinungs- und Handlungsfreiheit: zum Beispiel schränkte die deutsche Regierung die freie Meinungsäußerung von Rechtsradikalen ein, und in den USA raubte die Regierung den Homosexuellen die Freiheit der Eheschließung. Der einzige Unterschied bestand darin, dass im Westen – zumindest theoretisch – die Regierung ihre Macht vom Volk verliehen bekam, während in China die Freiheiten des Volkes von der Regierung gewährt wurden. War dieser Unterschied wirklich so relevant?
Heute sagte doch selbst Chens Putzfrau: Es ist alles viel besser als früher.
China machte Fortschritte. Sollte es doch noch zehn, zwanzig Jahre so positiv weitergehen. Niemand wünschte sich, dass es wieder zu großen Umwälzungen kam.
Jeder sollte pragmatisch seinen Teil dazu beitragen, dass das Land sich stabil nach vorne entwickelte und das Leben der Bevölkerung langsam an Qualität gewann. Das war doch mehr als genug.
Es war alles nur Fang Caodis Schuld, dachte Chen. Dieses Gerede von einem verschwundenen Monat und Yang Jiangs Büchern – damit hatte er ihn völlig durcheinandergebracht!
Chen würde sich ab jetzt nur noch um zwei Dinge sorgen: um seinen Roman und um die Suche nach seiner verspäteten Liebe!
Er nahm das Telefon und rief Hu Yan an, seine Freundin bei der Akademie der Sozialwissenschaften.
***
Hu Yan wusste inzwischen, dass das Wochenende zum Ausruhen gedacht war und nicht zum Arbeiten. Ihr Mann lag ihr ständig in den Ohren: Sie sei nicht mehr die Jüngste, ihre Tochter ginge ja schon zur Universität, sie solle die Dinge langsamer angehen.
Sie wusste auch, dass mehr Projekte offen waren, als sie jemals abarbeiten konnte. Es herrschte eine völlig andere Situation als früher, als man ihrer Forschung keine Beachtung geschenkt hatte, sie kaum an Gelder gekommen war und ihre Arbeit sie ein ums andere Mal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Mittlerweile zählte sie zu den gefragtesten Wissenschaftlern im Land und die Erforschung der ländlichen Kultursoziologie zu den angesagtesten Disziplinen überhaupt.
Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie damals, Anfang der neunziger Jahre, für ihre Forschung über die Bildungsarmut junger Mädchen aus den Minderheitenstämmen der Provinz Guizhou auf Spendengelder aus Taiwan und Hongkong angewiesen gewesen war. Als sie sich gegen Ende des Jahrzehnts der Bildungsmisere bei Wanderarbeiterkindern gewidmet hatte, hatte ihr das in den akademischen Kreisen Pekings nichts als Geringschätzung eingebracht. Seitens der Regierung hatte man gar versucht, ihre Arbeit zu behindern und Druck auf sie auszuüben. Das neue Millennium hatte dann die große Wende gebracht: Im Zuge ihrer neuen Politik strukturierte die Zentralregierung mithilfe der kommunalen Verwaltungen das soziale Gefüge im ländlichen Raum um. Dabei war die Partei dringend auf kompetente Sachkundige angewiesen, und obwohl mit einem Mal eine ganze Reihe selbsternannter Experten für die Wanderarbeiterproblematik auf der Bildfläche erschienen, kamen die Kader auch auf Hu Yan zu. Ihr wurden immense Forschungsprojekte zugeteilt, wobei dem Aufbau der Infrastruktur in ländlichen Gebieten und der Reform des Pachtrechts oberste Priorität zukam. Hu Yan erhielt staatliche Mittel in einer Höhe, die ihre Akademikerkollegen vor Neid erblassen ließ.
Während ihrer Feldforschung auf dem Land war Hu Yan zufällig auf ein Phänomen aufmerksam geworden, das sie gleich interessierte: das rasante Wachstum der protestantischen Hauskirchen. In einer Erhebung aus dem Jahr 2008 hatte man die Anhängerzahl dieser »Untergrundkirchen« sowie der beiden staatlichen Kirchen – der Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung und der Katholisch-Patriotischen Vereinigung – noch auf fünfzig Millionen Gläubige
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