Die fetten Jahre
guten Hölle wussten die Menschen, dass sie in der Hölle saßen, und versuchten, sie zu verändern. Doch nach einer Weile im falschen Paradies waren sie so sehr daran gewöhnt, dass sie glaubten, tatsächlich im Himmelreich angelangt zu sein.
Chen selbst war das beste Beispiel: Die vergangenen Jahre hatte auch er keine Lust mehr verspürt, sich mit der schmerzhaften jüngeren Geschichte Chinas auseinanderzusetzen, hatte lieber im Kanon der Klassiker und der Trivialliteratur gelesen. Er surfte jeden Tag im Internet und ging regelmäßig zum Stöbern in die Buchgeschäfte; aber dass die Geschichte umgeschrieben worden war, die Wahrheit ausgelöscht, davon hatte er nichts gemerkt, weil er sich nicht mehr dafür interessiert hatte. Erst durch seinen Besuch bei SDX und seine folgende Internetrecherche war ihm aufgefallen, dass die historischen Fakten unübersehbar aufgehört hatten zu existieren, dass sie in aller Öffentlichkeit verschwunden waren.
Chen war Romanautor, ein Geschichtenerzähler, er wusste, dass in der mit Symbolen angefüllten Welt der Postmoderne Realitäten kreiert wurden, dass man Geschichte unterschiedlich interpretierte und dass man selbst darüber streiten konnte, ob etwas Fakt war oder Fiktion. Doch dass einem ins Gesicht gelogen wurde, dass man wie selbstverständlich Tatsachen auslöschte, dass ohne jeden Skrupel die Wahrheit verdreht und in aller Öffentlichkeit Geschichte gefälscht wurde – das bereitete Chen dann doch eine Spur von Unbehagen.
Aber nur eine winzige Spur.
Wenn er früher nicht als Journalist gearbeitet hätte, wäre es ihm vielleicht gar nicht so zwingend erschienen, dass man Tatsachen respektierte. Und wenn er nicht all die Interviews mit Chinas kulturellen Größen geführt hätte, hätte ihm wohl auch das Bewusstsein dafür gefehlt, dass das wahre Antlitz der Geschichte für die Nachwelt bewahrt werden sollte. Respekt vor der Geschichte, vor Tatsachen und vor der Wahrheit – diese Wertvorstellungen waren nicht selbstverständlich, sie wollten immer wieder aufs Neue gestärkt werden; allgemeine Anerkennung war ihnen nicht garantiert. Die meisten Menschen scherten sich nicht darum, kaum jemand würde für diese Werte eintreten; der Preis war auch viel zu hoch.
Hinzu kam, dass die Wahrheit oft schmerzte – und wer wollte schon Freude durch Schmerz ersetzen?
In diesem Moment verspürte Chen das Verlangen, die Last der Geschichte einfach von sich abzustreifen. Wollte man es den Menschen wirklich verübeln, dass sie sich nicht mehr erinnerten? War es unabdingbar, der jungen Generation das Leid der vorherigen vor Augen zu halten? Mussten die Intellektuellen sich unbedingt einmischen und im Kampf mit dem Staatsapparat ihr Leben riskieren? Hatten die Leute mit ihrem alltäglichen Leben nicht schon genug zu tun? Sollte die Jugend etwa nicht nach vorn blicken? War es nicht sinnvoller, wenn die Intellektuellen Anregungen gaben statt Kritik zu üben? Wenn sie realistisch waren und ihre Energie auf die Themen richteten, die das Land voranbrachten? Ging es den Leuten etwa nicht besser als früher?
Wer hatte noch die Zeit, sich um ein paar historische Fakten zu kümmern? Und es war ja auch nicht so, dass Geschichtsbücher, Sachbücher und Biografien generell verboten waren; im Gegenteil, es gab Unmengen davon. Nur solche, die nicht zur von der Partei sanktionierten Darstellung der neueren Geschichte passten oder diese gar herausforderten, verschwanden spurlos.
Chen fiel plötzlich eine Bezeichnung dafür ein: Neunzig-Prozent-Freiheit. Es herrschte bereits eine große Freiheit, man konnte über gut neunzig Prozent aller Themen frei sprechen, vielleicht sogar noch mehr. Mindestens neunzig Prozent aller Aktivitäten wurden nicht mehr streng kontrolliert und reglementiert. War das nicht genug? Die Mehrzahl der Leute kam selbst mit neunzig Prozent Freiheit nicht zurecht, ja sie fanden es noch zu viel! Beschwerten sich nicht alle schon über Informationsexplosion und Spaßgesellschaft?
Je länger Chen nachdachte, desto mehr fühlte er sich im Recht. Er hatte eine lange Liste mit Büchern, die er schon längst hatte lesen wollen. Darunter waren Bücher über chinesische Kultur, wie die Vierundzwanzig Dynastiegeschichten, aber auch Klassiker wie die großen russischen Historienromane des neunzehnten Jahrhunderts, Höhepunkte der westlichen Literatur. Die Lesegewohnheiten der Festländer und der Taiwaner waren früher sehr unterschiedlich ausgerichtet gewesen: Während Chens
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