Die fetten Jahre
beziffert. Hu Yan war überzeugt, dass sich ihre Zahl inzwischen auf an die hundert Millionen verdoppelt haben musste, denn in den letzten zwei Jahren war die Zahl der Gläubigen sprunghaft angestiegen. Hu Yan hatte daher zusammen mit zwei befreundeten Kollegen einen ersten inoffiziellen Bericht verfasst, den sie nun in ihrem überwiegend aus Akademikern bestehenden Bekanntenkreis zirkulieren ließ, um ein paar Reaktionen dazu einzuholen. Sie war nicht sicher, ob das Thema so lohnenswert war, um andere Projekte dafür zurückzustellen. Außerdem war Religionssoziologie nicht ihr Fachgebiet. Wenn sie nun in diesem Bereich auch noch erfolgreich wäre und staatliche Unterstützung erhielte, würden ihre Neider sich den Mund über sie zerreißen – Profilierungssucht und wissenschaftliches Allmachtsstreben wären dann noch die harmloseren Vorwürfe.
Hu Yan hatte sich immer nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert und darauf geachtet, sich nicht dem Zorn und den Lästereien der akademischen Welt auszusetzen; deshalb wollte ein Schritt wie der zur Erforschung der chinesischen Untergrundkirchen genau überlegt sein. Doch der Verlockung war schwer zu widerstehen: Unter 1,3 Milliarden Chinesen gab es einhundert Millionen Christen, in anderen Worten: jeder dreizehnte. Der Staat konnte vor diesem Phänomen einfach nicht länger die Augen verschließen. Hu Yan wusste, dass sie über ein ausgezeichnetes akademisches Gespür verfügte. So wie es aussah, würden die Untergrundkirchen sehr bald zu einem heiß diskutierten gesellschaftlichen Thema werden und sie samt ihrer Forschungen dann mit ins Rampenlicht ziehen. Für die Wissenschaftlerin in ihr war das eine große Verlockung. Sie hatte Witterung aufgenommen – würde sie ihren Elan jetzt überhaupt noch bremsen können? In letzter Zeit überkamen sie täglich mehrmals Hitzewallungen und sie verspürte konstant eine leichte Euphorie.
Es war früh am Sonntagabend, ihr Mann war in der Küche und bereitete, revolutionäre Lieder schmetternd, das Abendessen. Hu Yan saß im Arbeitszimmer und dachte darüber nach, wie man ein Forschungsprojekt über Untergrundkirchen am besten aufzog, als sie einen Anruf von ihrem alten Freund Chen bekam. Er sagte, er brauche ihren Rat. Ob sie morgen in der Akademie sein würde? Eigentlich erst am Donnerstag, antwortete sie, fügte aber schnell hinzu, wenn es etwas Wichtiges gebe, könne sie auch morgen schon hinfahren. So verabredeten sie sich für den nächsten Mittag im Restaurant neben der Akademie.
Hu Yans erster Besuch in Taiwan in den neunziger Jahren war durch Chens Hilfe zustandegekommen. Er hatte ihr ein Einladungsschreiben der Cultural University besorgt und für sie den Kontakt zu jener taiwanischen Stiftung hergestellt, die später ihre Forschung über die Mädchen aus unterprivilegierten Volksgruppen ermöglicht hatte; somit hatte Chen ihr einen wichtigen Schritt in ihrer akademischen Karriere ermöglicht. Um dieser alten Freundschaft willen konnte sie ihm seine Bitte nicht abschlagen, obgleich der Kontakt zu Chen für ihre akademische Laufbahn mittlerweile keine Rolle mehr spielte.
***
Am nächsten Tag nahm Chen Fang Caodi mit zu seiner Verabredung mit Hu Yan. Zuvor hatte er ihm gesagt, dass sie alles wusste, was es über die Verhältnisse in China zu wissen gab. Kaum einer sei näher an der gesellschaftlichen Basis als sie; niemand hatte ein feineres Gespür für Tendenzen und Stimmungen im Volk; wenn sie von einem Phänomen nichts wusste – dann existierte es mit großer Sicherheit gar nicht.
Chen wollte Fangs »Hirngespinst« von den angeblich verschwundenen achtundzwanzig Tagen ein für allemal aus der Welt schaffen.
Fang war unbeeindruckt geblieben: »Ich lasse mir meine Erinnerungen von niemandem ausreden.«
Es gab auch noch einen anderen Grund für Chens Treffen mit Hu Yan. Er wollte wissen, ob sie etwas mit dem untoten Weizenkorn anfangen konnte. Vor einiger Zeit hatte Hu Yan eine Rund-Mail herumschickt, in der es um ihre Forschung zum Thema Untergrundkirchen ging.
Beim Essen erzählte Hu Yan ein wenig davon, womit sie sich zur Zeit beschäftigte: Sie beriet die Regierung bei ihrem Umgang mit landwirtschaftlichen Kooperativen und dem Management der ländlichen Finanzinfrastruktur, außerdem erstellte sie einen Folgebericht über die gesellschaftlichen Auswirkungen des neu eingeführten Besitz- und Veräußerungsrechts der Bauern an ihren Parzellen.
Unumwunden fragte Chen: »Und? Geht es den Menschen auf dem
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