Die fetten Jahre
Rechtsabweichler oder die Kulturrevolution hatte er kaum noch angerührt. Er hatte nur noch chinesische Klassiker, Werke über die Geschichte und Kultur des alten China oder Reiseberichte und Prosa bekannter Persönlichkeiten gelesen, dazu intensiv Louis Cha, Eileen Chang und Lu Xun. Er hatte lange nicht mehr darauf geachtet, was bei SDX noch an Sachbüchern und Erinnerungen an den Kampf gegen Rechts oder die Kulturrevolution in den Regalen lag. Also beschloss er, selbst im Untergeschoss nachzusehen.
Vor zwei Jahren hatte man hier ein wenig umgebaut. Früher war der Bereich an der Treppe für die von SDX verlegten Bücher reserviert gewesen, inzwischen fanden sich dort Romane und Prosa, dahinter kamen klassische chinesische Geschichte und Kultur, Religion sowie Film und Fernsehen. Dort war heute einiges los, wenn auch nicht annähernd so viel wie bei den Bestsellern, Business-, Motivations- und Reiseratgebern im Erdgeschoss. Weiter hinten im Untergeschoss, wo der Grundriss einen L-förmigen Knick machte, waren jedoch nur noch vereinzelt ein paar Kunden zu sehen. Dort befand sich die Abteilung für Philosophie, Geschichte und Politik. Bei seinem letzten Besuch hatte Chen hier urplötzlich ein starkes Beklommenheitsgefühl überkommen; diesmal wurde er jäh von heftigen Kopfschmerzen geplagt. Er musste die Büchersuche aufgeben und beeilte sich, wieder nach oben zu kommen, wo die Schmerzen etwas nachließen. Er wollte sich hinsetzen und lief geradewegs weiter in den ersten Stock, wo sich das Café befand.
Gerade, als er auf einen Platz im hinteren Teil des Cafés zusteuerte, hörte er eine Stimme rufen: »Chen, mein Junge!« Er sah sich überrascht um und entdeckte den alten Zhuang Zizhong, Mitbegründer des Dushu-Magazins, der ihn zu sich winkte. Bei ihm saßen der Geschäftsführer des Buchladens, zwei Angehörige der Kulturszene, die er flüchtig kannte, und eine junge Frau. Beim letzten Dushu-Empfang hatte er Zhuang nicht begrüßt, weil zu viele Leute um ihn herumgestanden hatten; jetzt gab es kein Entkommen. Insgeheim beschämt schüttelte er ihm mit überschwänglicher Freundlichkeit die Hand: »Mein verehrter Herr Zhuang, wie schön Sie zu sehen!«
Zhuang Zizhong deutete auf die junge Frau neben sich: »Meine Frau und neue Gebieterin. Ihr kennt euch noch nicht, glaube ich.«
Chen gab ihr behutsam die Hand: »Frau Zhuang, Sie gestatten: mein Name ist Chen.«
»Ihr kennt euch?«, fragte Zhuang in die Runde, was allseits bejaht wurde.
»Chen, mein Junge, unser Interview in der Ming Pao hebe ich heute noch auf. Ist jetzt schon ein Vierteljahrhundert her!«
Alle Anwesenden machten ein beeindrucktes Gesicht.
»Setz dich doch, ich muss dich etwas fragen: Wie hat eigentlich die Ming Pao über den Besuch aus der Parteizentrale bei mir geschrieben?«
Die Website der Ming Pao Daily wurde abgeschirmt und war vom Festland aus nicht zu erreichen, Chen hätte sie also gar nicht lesen können, dennoch sagte er ohne zu zögern: »Oh, in etwa dasselbe wie die Beijing News. Ein längerer Artikel.«
Zhuang war sichtlich erfreut.
Impulsiv platzte Chen mit einer Sache heraus, die ihn seit einiger Zeit beschäftigte: »Herr Zhuang, sagen Sie, sind die Intellektuellen jetzt wirklich bereit, sich mit der Partei zu versöhnen?« Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, befürchtete er schon, damit zu direkt gewesen zu sein.
»Sich mit der Partei versöhnen? Die Frage ist doch eher, ob die Partei den Intellektuellen vergeben will!«, rief Zhuang.
In diesem Moment kam jemand an den Tisch, um ihn zu begrüßen. Chen nutzte die Gelegenheit und fragte leise den Geschäftsführer, wieso die Bücher von Yang Jiang allesamt nicht mehr erhältlich waren.
»Welche Yang Jiang?«
»Na die Frau von Qian Zhongshu.«
Der Geschäftsführer schien sich zu entsinnen: »Ach so, die Yang Jiang. Wahrscheinlich liest sie heute einfach niemand mehr.«
Chens Kopfschmerzen meldeten sich zurück. Konnte es sein, dass sich die Interessen der Durchschnittsleser in den letzten zwei Jahren genauso verschoben hatten wie seine eigenen?
»Herr Zhuang, ich muss mich leider verabschieden«, sagte er, »ich habe noch einen Termin. Es hat mich gefreut, Sie zu sehen, bleiben Sie gesund!« Und zu Zhuangs Frau: »Frau Zhuang, ich empfehle mich. Geben Sie gut Acht auf Ihren Gatten, er ist schließlich ein Staatsschatz!«
Als Chen das Geschäft verließ, fragte er sich, ob er es mit der Höflichkeit nicht etwas übertrieben hatte. Zhuang einen »Staatsschatz«
Weitere Kostenlose Bücher