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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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freizulassen!‹
    ›Amerikaner können nicht einfach Exterritorialität genießen!‹, rief der Staatsanwalt.
    ›Mit Exterritorialität hat das nichts zu tun. Es ist kein Verbrechen, als Chinese einen amerikanischen Pass zu besitzen, das sagen unsere eigenen Gesetze!‹
    Die beiden Staatsanwälte waren über die Einwände der Richterin sichtlich erbost. Die Staatsanwältin hob ihre Stimme und rief: ›Genossin! Jetzt hören Sie schon auf mit Ihrer blinden Opposition! Ist Ihnen bewusst, dass sie dabei sind, gute Polizeiarbeit zunichte zu machen? Man hat den Kerl mühevoll eingefangen und Sie wollen ihn einfach wieder laufen lassen! Sie verschwenden damit auch unsere Zeit, aber davon abgesehen verhindern Sie, dass wir unser Pensum schaffen! Sie nehmen in Kauf, dass wir die Vorgaben von oben nicht erfüllen!‹
    Ihr Kollege nickte zustimmend. Die beiden Polizisten und die zweite Richterin gaben während der ganzen Zeit nicht ein Wort von sich. Aber die junge Richterin blieb standhaft: ›Das ist mir gleich‹, beharrte sie. ›Ich halte mich an unsere Gesetze. Ist er ein Spion, dann wird er gemeldet. Ist er keiner, wird er laufen gelassen!‹
    Die Staatsanwältin starrte sie wutschnaubend an, sie schien vor Zorn gleich zu platzen. Ihr männlicher Kollege hatte den Blick gesenkt und sagte nichts mehr. Gebannt verfolgte ich das Schauspiel, bis die Staatsanwältin schließlich rief: ›Bringt ihn raus!‹
    So ließ man mich am Leben. Ich war wieder frei.
    Dass es selbst in einem so abgelegenen Kaff eine so gewissenhafte Richterin geben kann! Allein schon wegen dieser jungen Frau darf ich es nicht zulassen, dass die Welt diesen Monat vergisst.«
    Chen war von Fang Caodis Bericht erneut ein wenig gerührt und sehnte sich noch mehr nach Xiaoxi.
    »Ich wusste nun, dass ich nicht weiter einfach so und auf eigene Faust herumreisen konnte; beim nächsten Mal würde man mich vielleicht wirklich an die Wand stellen. In der Nähe des Dorfes gab es einen daoistischen Tempel, in dem ein alter Mönch wohnte. Ich sagte ihm ein paar daoistische Verse auf, die ich noch von früher wusste – Ha! – schon nahm er mich bei sich auf. Bei einer anderen Gelegenheit erzähle ich Ihnen von meinen Klausuren und vom Lichtfasten. Haben Sie schon mal vom Lichtfasten gehört? Vereinfacht gesagt bedeutet es, dass man gar nichts isst. Ich kann vierzehn Tage ohne Nahrung auskommen, können Sie sich das vorstellen? Wenn Sie wollen, können wir ja mal zusammen fasten. Mal sehen, wer von uns beiden länger durchhält …«
    »Nicht nötig«, sagte Chen, der gerade eine SMS auf seinem Handy las. »Du gewinnst sowieso. Nicht mal eine einzige Mahlzeit am Tag könnte ich weglassen. Aber erzähl erst mal zu Ende. Danach erzähle ich dir, was ich gerade erfahren  habe.«
    Fang Caodi fuhr mit seiner Geschichte fort: »Ich wollte einundzwanzig Tage fasten, aber schon am vierzehnten brachte mir der alte Mönch eine Schale Reisbrei und sagte: ›Du solltest dich einmal draußen umsehen.‹ Er hatte sicher einen guten Grund dafür, mein Fasten zu brechen, dachte ich, und machte mich auf in die nächstgelegene Stadt. Die Straßen waren wie ausgestorben und die Zeitungen verkündeten, die Anti-Kriminalitätskampagne müsse weiter fortgesetzt werden. Aber zumindest funktionierte der öffentliche Verkehr wieder einigermaßen und ich fuhr in die Kreisstadt Ganzhou, wo ebenfalls geisterhafte Ruhe herrschte. Die wenigen Passanten wagten nicht, einander ins Gesicht zu sehen – wie damals in Peking nach dem 4. Juni ’89.
    Doch dann, Anfang März, hieß es in den Abendnachrichten, dass die Kampagne fürs Erste beendet sei. Am nächsten Tag konnte man in den Schlagzeilen der Zeitungen lesen: ›Chinas Goldenes Zeitalter hat begonnen‹. Die Menschen waren überglücklich und zündeten auf der Straße Feuerwerkskörper an.
    Zwischen dem Beginn der Feuer-und-Eis-Periode und dem Anbruch des Goldenen Zeitalters vergingen also achtundzwanzig Tage, angefangen beim absoluten Schrecken der Anarchie bis hin zum relativen Schrecken der Repressionskampagne. Erst danach begann das Goldene Zeitalter. Es fiel nicht glatt mit dem Beginn der Wirtschaftseiszeit zusammen, wie alle behaupten.
    Damit bin ich am Ende mit meinem Bericht. Sie wollten mir etwas erzählen, Herr Chen?«
    »Hu Yan hat mir eine SMS geschrieben. Die Weizenkorn-Kirche befindet sich in Jiaozuo. Fang, wir fahren nach Henan!«

Ein Weizenkorn, das zur Erde fällt, erstirbt nicht
    Der vielgereiste Fang Caodi steuerte den

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